November – Band 1: „Kein Wiedererkennen“

Warum die finstere Thriller-Serie von Autor Matt Fraction und Zeichnerin Elsa Charretier nach dem elften Monat im Jahr benannt ist, wird mir auch nach der Lektüre von Band 1 „Die Frau auf dem Dach“ nicht einleuchtender. Hierzulande und auch in Fractions Heimatstadt Portland mag der November düster und stürmisch sein, für die unbenannte Stadt der Handlung muss das nicht notwendig gelten. Immerhin wird der geneigten Leserschaft zu Beginn ein Gedicht als Leitmotiv kredenzt, das das „No“, das „Nein“, in November betont. Da kommt schon Untergangsstimmung auf.

In gewisser Weise muss die Leserschaft vorgehen wie ein Ermittlungsteam, um das Rätsel und die Verbindungen in „November“ offen zu legen. Klassische Cop-Auftaktfrage: „Okay, was haben wir?“ Wir haben eine rätselgeile Drogensüchtige mit Schlafstörungen, der ein Unbekannter leicht verdientes Geld anbietet. Jeden Tag in aller Frühe einen codierte Zahlenkombi erkniffeln und durch ein Funkgerät jagen. Der Haken: Es gibt keine freien Tage. Jeden Morgen abliefern.

Außerdem haben wir einen Revolver, der an einer Kreuzug in einer Pfütze liegt. Eine junge Frau meldet das, wird gebeten dort auf die Streifenpolizisten zu warten und verschwindet anschließend spurlos. Eventuell weil der Waffenbesitzer zurückkommt? Oder weil die Cops unsauber spielen?

No shadow, No stars

Diesen Verdacht hat jedenfalls die Polizei-Telefonistin Kay Kowalski. Irgendwie benimmt sich die eine Streife seltsam, ist über Funk nicht zu erreichen und lässt Beweismittel verschwinden. Kay weiß nicht so recht, ob sie ihre Pension ebenfalls aufbessern will, oder ob sie den Jungs lieber das Handwerk legt.

Soviel zu den drei Akteurinnen in dieser Story. Aber irgendwann wird jede:r Leser:in stutzig. Mit der Chronologie stimmt etwas nicht. Der Erzähler ist unzuverlässig. Lässt Sachen aus, hält sich nicht an die Timeline und sorgt so für Verwirrung. Schon schlimm genug, dass die Cops der ganzen Stadt in Aufruhr sind, zumindest in der einen, vermeintlich aktuellsten Erzählzeit.

„No moon, No care, November“

Nächste klassische Ermittler-Aktion: „Fassen wir zusammen.“ Das Gedicht „November“ von Thomas Hood (1844) bringt uns nicht weiter. Autor Matt Fraction ist ein Star unter den amerikanischen Comicautoren. Für Marvel Comics hat er den Avengers-Bogenschützen Hawkeye quasi neu definiert und zu einer coolen Socke gemacht. Mit Zeichner Chip Zdarski hat er bei Image Comics die irre, fast therapeutische Crime-Serie „Sex Criminals“ aufgezogen, die bei Panini Comics auf Deutsch nach 3 Sammelbänden abgesetzt wurde, weil das hier (außer mir) keiner lesen wollte. Fraction heimst regelmäßig Preise ein und ist ein cleverer und versierter Erzähler. Liest sich wie eine Lobhudelei? Ist es auch. Ich bin Fan.

Ich bin außerdem Fan von Kolorist Matt Hollingsworth, der auch an „Hawkeye“ mitgearbeitet hat, darüber hinaus aber unter anderem auch Stories über Daredevil, Jessica Jones und Batman bunt gestaltet hat. Zwar werden bei Comics meist nur Autoren und Zeichner abgefeiert, aber bei der Mainstream-Superhelden-Arbeitsteilung ist die Farbgebung zumindest so wichtig wie die Zeichnung an sich. Schließlich kommt so die Stimmung auf. Matt Hollingsworth ist ein Meister. Auch wenn im Kurzporträt in November steht, dass er „mit seinem selbstgebrauten Bier mehr Preise gewonnen hat als mit den Comics, die er koloriert hat.“

In „November“ sorgt die monochrome, flächige Farbgebung für ganz unterschiedliche Stimmungen, je nachdem welche Protagonistin gerade im Bild ist. Finster ist das Ganze ohnehin, aber die braun und blassblauen Junkie-Töne sind ebenso trist, wie die gedeckten himmelblauen Kindheitserinnerungen der Frau, die den Revolver findet.

„It only believes, In a pile of dead leaves“

Nu je, wenn die Zeichnungen nicht überzeugen, bringt auch die Kolorierung nichts. Glücklicherweise kann Elsa Charretier locker mit den Kollegen mithalten und sorgt mit ihren ebenso klaren wie ausdrucksstarken Panels dafür, dass der Laden läuft, die Asservatenkammer im Schatten und der Taubenschlag auf den Hochhausdach clandestine bleibt. Die Seiten haben weitgehend einen klassischen Graphic Novel Aufbau, der auf dreizeilige Erzählung setzt, in der es eher um Handlung und Stimmung geht, als darum Seiten sprengende Action zu inszenieren. Es geht nicht notwendigerweise explizit zu, aber mit Drogen, Sex und Gewalt richtet sich „November“ schon eher an eine erwachsenere Leserschaft.

Im Prinzip ist „November“ eine klassischer Crime Noir Erzählung. Vieles bleibt rätselhaft, jeder ist zwielichtig und Gewalt ist ein probates Mittel der Problemlösung. Der erste Band von „November“ heißt „Die Frau auf dem Dach“ und beinhaltet die ersten acht Kapitel der Geschichte. In den USA veröffentlichte Image Comics die inzwischen abgeschlossene Serie. Deren Sammelbände beinhalten aber nur 4 US-Ausgaben, selbst wenn die Cover und Aufmachung sehr ähnlich erscheinen.

„And a moon, That’s the color of bone“ (Tom Waits, „November“)

Bei Schreiber & Leser sind die Kapitel jeweils mit Seiten voller Maschendraht getrennt. Das wirkt so als wäre die Leserschaft mitgefangen oder gleichfalls im Taubenschlag untergekrochen. Am Ende bleiben viele Fragen offen. Wir wissen in bester Weltuntergangs-Mahner-Manier „Das wird böse enden“. Wir wissen nur nicht was. Wem das zu wenig ist, der ist hier falsch. Wem das mehr als genug ist, der kann in der Zwischenzeit einfach nochmal (odr mehrmals) zurückblättern. Es lohnt sich.

Zufälligerweise wurde in der Zeitung „Welt“ auch gerade der Monat November gehuldigt. Zusammen mit dem Januar soll der November der unbeliebteste Monat sein. Andererseits ist der unberechenbare Herbstmonat immer für eine Überraschung gut und für Tristesse. Das hat auch was Anarchisches. So wie diese Geschichte.

Ich mag es, als Leser im Dunkeln gelassen zu werden. Ich mag den Erzählstil und auch das Visuelle in der Auftakt-Ausgabe von „November“. Allerdings verstehe ich jeden, dem das zu künstlich ist, zuviele Versatzstücke, Zeitsprünge und verdrehte Informationshäppchen. Ausgesprochen hartgesotten geht es in der finsteren Erzählung zu und irgendwie verspricht dieser Auftakt nicht unbedingt ein Happy End. Aber wer nicht auf die US-Amerikanischen Ausgaben umsteigen will, muss sich wohl gedulden, welche vertrackten Pfade „November“ einschlägt. Matt Fraction bekommt Vertrauensvorschuss. Der ist allerdings auch in der hinreißenden Optik von Charretier und Hollingsworth begründet. Ich bleibe gespannt.

Comic-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

November: 1. Die Frau auf dem Dach
OT: November Volume 1-4, Image Comics, 2019-2021
Genre: Comic, Thriller, Crime
Autor: Matt Fraction
Zeichnerin: Elsa Charretier
Farben: Matt Hollingsworth
Übersetzung: Stephanie Grimm
Verlag: Schreiber und Leser, Hardcover, 152 Seiten,
VÖ: 05.10.2022

November Band 1 bei Schreiber & Leser