Naomi – Wie alles begann: Ein Kraftwerk für die Provinz

Wie aus einem Kleinstadt-Teenager eine neue Heldin mit überirdischen Kräften wird ist nachzulesen in der unterhaltsamen und coolen Comic-Serie „Naomi“ von den Autoren Brian M. Bendis und David F. Walker und Zeichenkünstler Jamal Campbell. Panini Comics veröffentlicht die Origin-Story rechtzeitig zum Start der TV-Serienadaption.

Naomi McDuffie ist ein (fast) typischer amerikanischer Teenager. Zumindest was den langweiligen Kleinstadt-Alltag in nordwestlich gelegen Port Oswego angeht. Mit der besten Freundin abhängen, lernen und seinen Hobbies nachgehen. Die 17jahrige ist eine von denen, die es verpassen, wenn schon mal etwas passiert.

Eigentlich hat sie kein Problem damit, dass sie adoptiert ist, aber als dann ausgerechnet der maulfaule Automechaniker Dee damit rausrückt, dass das einzige andere außergewöhnliche Ereignis in der jüngeren Stadtgeschichte am Tag von Naomis Adoption vorgefallen ist, wird die junge Frau doch neugierig. Leider rücken Eltern selten gerne mit der Wahrheit heraus, die sie 17 Jahre lang geheim gehalten haben. In Naomis Fall kommt mit der Wahrheit über ihre Herkunft auch ein ganzes Paket an Superkräften dazu.

Für Comic-Fans und Neuleser ist es immer spanend neue Held:innen zu entdecken. So haben etwas Miles Morales als Spider-Man und auch die muslimische Ms. Marvel Kamala Khan bei ihren ersten Auftritten für gehörigen Pep beim Konkurrenten Marvel Comics gesorgt. Bei DC hat sich lange kein neues Gesicht ans Licht gewagt.

Für Autoren und Zeichner ist es auch eine Herausforderung neue Charaktere zu erfinden. Gerade im Superhelden-Genre sind so viele Plätze und Nischen in der Lesergunst bereits besetzt, dass es kompliziert ist, neue Held:innen zu erschaffen. Bisweilen ist es einfacher vergessene Charaktere aus früheren Zeiten neu zu beleben. Oder neue Sidekicks werden etabliert, wie etwas Jason Aarons Bibliothekarin Zelma Stanton („Doctor Strange“), weil denen nicht das Gewicht auf den Schultern liegt, eine ganze Serie zu tragen.

Als Star-Autor Brian M. Bendis von Marvel Comics zu DC Comics wechselte, versprachen sich viele der Verantwortlichen bei DC vor allem neue Impulse. Und die gibt es auch. Nicht alles fruchtet oder stößt auf Gegenliebe wie etwa die leidigen Serien-Events. Aber es tut sich etwas im Hause von Kal-el und Co. Eigens dazu alte Helden wiederzubeleben und neue Helden zu erfinden wurde das DC-Unterlabel „Wonder Comics“ gegründet.

„Naomi“ ist die erste neue Heldin aus der Bendis-Schmiede und bringt alles mit, was moderne Superhelden-comic-Spaß auszeichnet. Die Herkunftsgeschichte, die die Mini-Serie „Naomi“ in sechs US-Ausgaben erzählt, stammt aus einer Zusammenarbeit von Brian Bendis, der bereits Miles Morales und Jessica Jones erschuf, und David F. Walker, der für Marvel „Nighthawk“ auf Verbrecherjagd schickte und die Heros for Hire, „Power Man und Iron Fist“, mit viel Mojo wiederbelebte. Walker ist so etwas wie Experte für afroamerikanische Kultur und sorgt dafür, dass es in „Naomi“ zeitgemäß divers zugeht.

Die Geschichte ist insofern klassisch, weil sie den Erzählstrukturen und Elementen jener Heldensagen folgt, die schon seit den alten Griechen Abenteuer ausmachen. Aber hier sind Meister des grafischen Erzählens am Werk und das merkt man an den Details und pfiffigen Dialogen.

Selbstredend erfordert eine herausragende neue Geschichte auch eine eigenständige herausragende Optik und Jamal Campbell sorgt dafür, dass „Naomi“ modern sympathisch und eigenständig rüberkommt. Dazu ist das Paneling sehr offen, der Lesefluss geht oft gleich über eine Doppelseite und wirkt damit quasi leinwandgroß. Außerdem sorgt die alleinige künstlerische Kontrolle dafür, dass Konturen und Farbgebung perfekt zusammenspielen.

Bisweilen sieht man den Panels richtig an, dass die Hintergründe, Schraffuren und Effekte zuerst da waren und die Figuren in die Bilder steigen wie Schauspieler in eine Filmkulisse. Da braucht es nur wenig striche, um die Konturen abzugrenzen. Stark sind auch die Actioneffekte und die außergewöhnlichen überhöhenden Perspektiven. So wird aus der Herkunftsgeschichte auch eine Teenager-Geschichte vom Erwachsenwerden und die Geburtsstunde einer neuen Heldin.

Kein Wunder dass „Naomi“ den Zeitgeist in den USA getroffen hat und direkt für eine Verfilmung als TV-Serie angepeilt wurde. Jene TV-Serie startete Anfang des Jahres und so nutz Panini Comics die Gelegenheit diese hinreißende Comic-Serie auch in deutscher Übersetzung auf den Markt zu bringen. Und hinter dem Heldennamen „Powerhouse“, den Aquaman der neuen Kollegin verpasste und was soviel wie „Kraftwerk“ bedeutet, verbirgt sich noch einiges an Potential, sowohl für Team-ups als auch für weitere Soloabenteuer. Wir bleiben gespannt.

Es dauert ja immer eine Weile, bis sich Neuheiten und Hype auf dem Sektor der us-amerikanischen Mainstream-Superhelden auch hierzulande zeigen. Die Leserschaft bei uns ist dann doch zu überschaubar und die bewährten altgedienten Helden werden von den Fans oft bevorzugt. Aber wer auf neue Impulse steht, kommt an „Naomi“ nicht vorbei. Die junge Heldin ist nicht nur für Neuleser geeignet, sondern begeistert auch routinierte Vielleser. Neue Held:innen braucht das Genre, und „Naomi“ ist ein Kraftpaket.

Comic-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Naomi – Wie alles begann
OT: Naomi 1-6, DC Comics, 2019-20
Genre: Comic, superhelden
Autoren: Brian Michael Bendis, David F. Walker
Zeichner & Farben: Jamal Campbell
Übersetzung: Katrin Sust
ISBN: 9783741627019
Verlag: Panini Comics, Softcover, 164 Seiten
VÖ: 25.01.2022

Naomi bei Panini Comics