Selten genug werden in Wettbewerben auf Filmfestivals Animationsfilme gezeigt. Das fantastisch chinesische Zeichentrick-Feuerwerk „Deep Sea“ lief auf der Berlinale im Februar diesen Jahres und kommt nun am 10. August 2023 hierzulande in die Kinos. „Deep Sea“ ist schon einzigartig ausgefallen und definitiv Filmkunst, die keineswegs als Kinderfilm durchgeht. Das sollten leidenschaftliche Kinogänger:innen sich nicht entgehen lassen, selbst wenn es Aspekte des Films gibt, die sich kontrovers erwägen lassen.
Der Teenie Shenxiu geht mit der Familie auf eine Kreuzfahrt. Doch irgendwie fühlt sich das Mädchen wenig beachtet seit die Mutter die Familie vor Jahren verlassen hat. Der Vater hat wieder geheiratet und mit Shenxius Stiefmutter ein weiteres Kind, einen kleinen Sohn. Da geht auf der Kreuzfahrt schon mal Shenxius Geburtstag unter, weil der kleine Wonneproppen im Mittelpunkt steht.
Die Geschichte
Eines Nachts streunt das Mädchen während eines Unwetters über das Deck und geht über Bord. Als Shenxiu wieder zu sich kommt, schwimmt neben ihr ein tentakelwuseliges Fabelwesen, eine Hijinx. Ihre Mutter hatte ihr einst erzählt, dass Hijinxe einem die eigenen Wünsche erfüllen. Kurz darauf taucht neben ihr ein riesiges Schiff auf, das Restaurant am Boden der Tiefsee. Shenxiu geht an Bord.
Hier führt Chefkoch und Kapitän Nanhe ein eigenwilliges Regiment. Mit seinen Kochkünsten ist es nicht weit her und das Restaurant bekommt regelmäßig schlechteste Kritiken. Nun wittert Nanhe seine Chance, die fantastische Speisekarte um eine weitere Delikatesse zu erweitern: Nudelsuppe aus den Tentakeln der Hijinx. Dazu bietet er Shenxiu einen Handel an. Er hilft ihr, das rote Phantom zu bezwingen und ihre Mutter zu finden, sobald das Restaurant fünf Sterne erreicht und Nanhe seine Schulden abbezahlt hat.
Zum Geleit
Sieben Jahre haben Regisseur Tian Xiaopeng und sein Team an „Deep Sea“ gearbeitet. Das Ergebnis ist eigentlich für 3D animiert. Da sich der Verleih Leonine entschieden hat, den Film „nur“ in 2D in die Kinos zu bringen, mag die eine oder andere Sequenz etwas verwaschen wirken. Die Verleihentscheidung ist nachvollziehbar, da stereoskopische Filme ohnehin bereits in der Erstverwertung fürs Kino oftmals in herkömmlichem 2D gezeigt werden, zu schweigen von der Nachverwertung für das Heimkino. Schade bleibt das für Cineasten dennoch. Genauso wie die Synchronfassung, die zwar ein größeres Publikum anspricht und gelungen ist, aber aufgrund des komplett unterschiedlichen Sprachaufbaus von Chinesisch und Deutsch den „Sound“ des Films verändert.
Apropos Sound: wie zu erwarten, bei einem visuell derart überbordenden Film ist die szenenbegleitende Musik überpräsent. Das gehört nun nicht zu meinen liebsten Stilmitteln, ist aber wie es ist. Ebenso wie die drei Lieder im Film, die dem Geschehen einen Musical-Charakter verleihen, den das Publikum aus Disney-Zeichentrickfilmen kennt. Die Nummern sind für sich genommen gelungen, mir persönlich aber zu pathetisch. Geschmackssache, keine Frage.
Geschmackssache auch die Physiognomie der menschlichen Charaktere: rund und rollend, selbstzufrieden und genügsam, wenig sympathisch. Demgegenüber die schlanke aber unglückliche Shinxiu und der dürre, obsessive, magische Kunstkoch Nanhe. Die Fabelwesen und Ozeanbewohner auf dem Restaurantdampfer sind dann ihrer Natur oder der Erwartungshaltung des Publikums entsprechend vermenschlicht.
Eins noch zur Schreibweise der Namen. Im Text finden sich die transkribierten Schreibweisen wie sie das offizielle Presseheft verwendet. eine kurze weitere Bemerkung: Eventuell hätte sich auch ein übersetzter Titel angeboten? Oder ein Titelzusatz?
Die Erzählhaltung
Tatsächlich kommt es selten vor, dass der „Fachliche Austausch“ mit Kolleg:innen nach einer Filmvorführung so angeregt und die Wahrnehmung auch so unterschiedlich ausfällt. Insofern ist „Deep Sea“, was große Filme (und große Kunst) sein sollten: eine Projektionsfläche, die Raum für unterschiedlichste Zugänge und Deutungen bietet. Hier also meine.
„Deep Sea“ nutzt eine reale Ausgangssituation für eine fantastische Reise, darin zeigen sich Parallelen zu „Chihiros Reise ins Zauberland“, „Nils Holgerson“ und „Alice im Wunderland“. Allerdings ist die junge Hauptfigur zu Filmbeginn derart betrübt, dass ich die Filmstimmung als sehr deprimierend empfunden habe. Je nachdem wie schwer die emotionale Bürde vom Publikum aufgenommen wird, setzt sie die Stimmung für den fantastischen, farbenfrohen Strudel. Das kann auch ins Bedrohliche umschlagen. Der Film schafft es in seiner Turbulenz und konstanten Bewegung nicht, mich (und vielleicht auch Shinxiu) emotional wieder froher zu stimmen.
Die fantastische Reise muss zu einem Ziel führen. Anders als bei vielen mehrheitsfähigen, am Ende versöhnlichen Unterhaltungsfilmen sagt Regisseur Tian Xiaopeng er könne die Probleme Shenxius nicht lösen und nur auf die Befindlichkeiten von Kindern aufmerksam machen. Richtig und legitim und tiefgründig, aber eben nicht souverän erzählt im Sinne einer märchenhaften Parabel, die „Deep Sea“ auch ist. Immerhin, oder leider, werden viele Elemente der fantastischen Kreuzfahrt gegen Filmende mit der (Film-)Realität abgeglichen. Da kommt es möglicherweise zu dem einen oder anderen Aha-Erlebnis.
Das chinesische Kino
Tian Xiaopeng hat bereits mit seinem ersten Animationsfilm 2015 das chinesische Kino „revolutioniert“. Und mit „The Monkey Kino“ wochenlang die Kinocharts belegt. Aber das sagte die Presse auch über die chinesischen Animationshits „White Snake“ und „Bigfish & Begonia“. Klar ist, das China über Produktionsstudios für Animationen verfügt, die international angesehen sind und seit Jahrzehnten starke Auftragsarbeiten abliefern.
Immer wieder ist auch die Klage zu hören, dass zuwenig chinesische Kinoproduktionen hierzulande regulär in die Kinos kommen. Immerhin sei das inzwischen einer der größten Kinomärkte der Welt. Mag sein, aber es gibt bei der Vielzahl der Kinostarts kaum genug Startplätze für europäische Kinoproduktionen. Bei denen durchaus fraglich ist, ob sie auf die große Leinwand gehören. Und mal ganz ehrlich, die Nische der Kinobegeisterten ist – abgesehen von Blockbustern – doch relativ überschaubar.
Zudem kommen vielleicht noch politische Erwägungen ins Spiel, weil niemand weiß, aber viele unterstellen, dass in China der Staat mehr oder minder überall mitentscheidet. Wieviel Propaganda hätten Sie denn gerne auf der Leinwand? Testen Sie doch mal „Cloudy Mountain“. Genug geschwätzt. Gehen Sie in „Deep Sea“ (eventuell auch mit Kindern) und lassen Sie sich überraschen. Es könnte sich lohnen – und Sie können mitreden.
Visuell ist „Deep Sea“ ebenso einzigartig wie herausragend. Der zweistündige Farb-und Formrausch ist möglicherweise erschlagend, aber von virulenter Kunstfertigkeit. Die Erzählung kann da nicht ganz mithalten. Wie so oft, wenn es darum geht ein, ein optisch beeindruckendes Erlebnis zu erschaffen, wird an der Story und Erzählstruktur gespart. Es mögen auch kulturelle Unterscheide zum Un- bzw. Missverständnis beitragen. Allerdings ist die Geschichte des traurigen, einsamen Mädchens nicht so schlicht und erhebend ausgefallen, dass sie sich zu kindgerechter Unterhaltung eignet. Aber das mag jede:r selbst erfahren. „Deep Sea“ ist ein Ritt auf einem psychedlischen Koboldhai.
Film-Wertung: (7,5 / 10)
Deep Sea
OT: Shen Hai
Genre: Animation, Fantasy
Länge: 113 Minuten, VRC, 2023
Regie: Tian Xiaopeng
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Leonine
Kinostart: 10.08.2023