Tore tanzt: Ekstatische Gebete

So richtig passt das verstörende Drama „Tore tanzt“ nicht in den #Gruselsommer. Immerhin setzt sich der Film ernsthaft mit Manipulation und Identitätsfindung auseinander. Andererseits geht es in der Woche mehrfach um verzerrte Wahrnehmung und Hypnose. Da kommt Katrin Gebbes Filmdebüt, dass seinerzeit bei den Filmfestspielen in Cannes 2013 hochgelobt wurde, schon wieder in den richtigen Kontext. Und ich habe mich damals im Kino ziemlich gefürchtet.

Eigentlich gehen Punk und Religion nicht zusammen. Aber es gibt auch christliche Heavy Metal Bands und Nazi-Punks. Eigentlich auch Dinge, die nicht zusammengehören. In Katrin Gebbes Spielfilmdebut „Tore tanzt“ ist die Hauptfigur, Tore (Julius Feldmaier), ein Jesusfreak. Der christlicher Punk hat sich in Hamburg einer schrägen Truppe ähnlich Gesinnter angeschlossen; Sekte wäre zuviel gesagt. Man und frau stehen auf schnellen Punk-Rock und einer sehr eigenen Interpretation des Christentums.

Die Jesusfreaks leben in einem heruntergekommenen, besetzten Haus. Der junge Streuner Tore hat hier eine Heimat gefunden und geht voll im Glauben auf. Eines Tages auf einer Autobahnraststätte trifft er Benno (Sascha Alexander Gersak) und dessen Familie. Deren Auto ist liegengeblieben und mit einem Kumpel betet Tore das Kraftfahrzeug wieder flott.

Pogo und Gebete

Kurz darauf taucht Benno bei einem Gottesdienst der Freaks auf. Tore hat einen epileptischen Anfall und Benno hilft, während der Rest nichts mitbekommt. Daraufhin lädt Benno Tore zu sich ein. In einer Gartenlaube wohnt Benno mit seiner Freundin Astrid und deren Kindern Dennis und der 15jährigen Sanny (Swantje Kohlhoff).

Tore findet zeltend im Garten ein neues Zuhause und ist glücklich. Doch das vermeintliche Idyll bekommt schnell Risse. Benno bedrängt seine Stieftochter. Gleichzeitig wird Tore immer häufiger zum Spielball von Bennos Sadismus. Zwischen Tore und Sanny entsteht schräge Freundschaft, die ebenso zart wie hilflos aus Bennos Psychoterror entspringt. Statt schleunigst abzuhauen, sieht Tore in dieser Familie seine göttliche Bestimmung.

„Tore tanzt“ ist von emotional enormer Wucht. Katrin Grebbe findet scheinbar alltägliche Bilder für das gelebte Grauen. Das Drama entwickelt einen bösartigen Sog, der die Charaktere immer weiter ins Verderben führt. Dazu braucht es weder Spezialeffekte noch teure Kulissen, gerade der Realismus macht „Tore tanzt“ so verstörend. Die Trailer-Trash Gegenwart am Rande einer deutschen Großstadt ernüchtert, und keiner will etwas mitbekommen haben.

Zelten und Wahlfamilie

Als Benno den bewusstlosen Tore nach dessen Anfall aus dem Raum trägt, zerrt er ihn auch symbolisch aus dem Licht ins Dunkel. Der symbolische Urknall des sich anbahnenden tragischen Dramas ist ein Leitmotiv des Films. Hier trifft falsch verstandener Glaube auf hemmungslosen Sadismus, der überhand nimmt und seine ganze Umwelt schleichend vergiftet.

Tore ist in seinem esoterischen Beharren ein personifiziertes, religiöses Opfer, dass immer auch noch die andere Wange hinhält. In seinem Beharren kompensiert der junge Mann, der ohne Familie und ohne Freunde allein in der Welt steht, seine ganze Hilflosigkeit und seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Auch Benno, der im Film als vordergründig freundlicher Familienvater auftritt, entpuppt sich im Verlauf als machtbesessener Tyrann. Er manipuliert und piesackt seine Mitmenschen, wo es nur geht und versteht nach außen hin, den Schein zu wahren. In Tore findet er seine Nemesis, den perfekten Gegenpart.

Die andere Wange hinhalten?

Das Wehrlose, Hinterweltlerische erlaubt es Benno die Grenzen des Sadismus überhaupt auszuloten. Es geht um Macht und den bewussten Missbrauch derselben. Das reicht von seelischen und körperlichen Misshandlungen bis hin zur totalen Erniedrigung, die auch immer noch mit einem scheinbar rationalen Argument unterfüttert wird.

Vielleicht sind die beiden Hauptfiguren in ihrer Ausrichtung etwas zu stereotyp stilisiert und eine Charakterentwicklung im engeren Sinn findet eigentlich nicht statt, doch die intensive Darstellung wiegt das wieder auf. Es geht auch nicht um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel. Die Konfliktlinie verläuft psychologisch an anderer Stelle und gerade das ist das höchst verstörende an „Tore tanzt“. Eine eigenwillige Religionsauslegung. Andernorts auf der Welt würde das Neue Testament als militante Befreiungstheologie ausgelegt.

Katrin Gebbes Film ist radikal in seiner schonungslosen Konsequenz und fordert dem Zuschauer einiges ab. Vor allem die Motivation der Personen stellt einen immer wieder vor unlösbare Rätsel. Wäre das alles nur Fiktion, man würde sich fragen, wer sich solche Typen ausdenkt? Doch „Tore tanzt“ beruht auf wahren Begebenheiten. Das Drama ist auch darum eine kaum zu ertragene Irrfahrt in die dunklen Abgründe der Seele. Ein radikaler und konsequenter Film, inhaltlich wie formal.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Tore tanzt
OT: Tore Tanzt
Genre: Drama,
Länge: 110 Minuten, D, 2013
Regie: Katrin Grebbe
Darsteller:innen: Julius Feldmeier, Swantje Kohlhoff, Sascha Alexander Gersak,
FSK: Ab 16 Jahren
Vertrieb: Rapid Eye Movies (REM)/ Alive
Kinostart: 28.11.2013
DVD-VÖ: 18.07.2014