Mittagstunde: Knickpflege

Die Bestsellerverfilmung „Mittagstunde“ zählte im vergangenen Kinojahr zu den besucherstärksten Arthaus-Filmen. Autorin Dörthe Hansen erzählt in ihrem Buch eine generationenübergreifende Familiengeschichte aus Nordfriesland. Regisseur Lars Jessen, ebenfalls in Schleswig-Holstein auf dem Land aufgewachsen, macht aus dem beliebten Roman einen wunderbaren, norddeutsch trockenen Film, der nun bei Majestic für das Home-Entertainment erschienen ist.

Ingwer Feddersen (Charly Hübner) fällt eine Entscheidung: Der Archäologie-Dozent nimmt an der Uni Kiel ein Sabatical und kehrt in sein Heimatdorf zurück. Seine Eltern brauchen Betreuung, aber Sönke Feddersen (Peter Franke), der Alte, denkt nicht dran, den Dorfkrug in Brinkebüll freiwillig zuzumachen und Ella (Hildegard Schmahl) wird langsam ganz schön tüddelig.

Für Ingwer, der mit 47 immer noch Single ist und in einer 3er-WG wohnt, die mit ihm in die Jahre gekommen ist, ist das schon ein Einschnitt. Das Dorf seiner Kindheit ist definitiv verschwunden und der Schlag Leute wird auch langsam weniger. Für Ingwer ist das Kümmern um die Alten nicht nur eine Pflicht, sondern auch Gelegenheit die Familienangelegenheiten zu sortieren.

Der trockenhumorige, tragikomische Film von Regisseur Lars Jessen inszeniert den gleichnamigen Bestseller von Dörthe Hansen. Das Absonderliche daran ist, dass eigentlich wenig passiert. Im Buch und im Film. Fotogen ist das Thema, oder die Themen, eigentlich auch nicht. Es geht um das, was nicht mehr da ist. Und das wiegt schwer. Kriegt man selten zu sehen, auch selten aus der Perspektive der „einfachen Leute“. Da guckt man und frau gerne zu.

Dat Bummeljahr

Auf dem internationalen Filmmarkt sagt mensch dann oft auch, so ein Roman sei nicht verfilmbar. Stimmt eigentlich auch ein bisschen. Der Film „Mittagstunde“ enthält Szenen, die im Roman so nicht vorkommen. Für norddeutsche Verhältnisse sind da Quasselstrippen unterwegs. Aber irgendwer muss ja mal was erklären. Gibt noch genug zu rätseln.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich nur ein Kaff von dem Dorfkrug im Film aufgewachsen bin. Vielleicht auch, dass ich eine Generation bin mit Frau Hansen und Herrn Jessen („Dorfpunks“, „Fraktus“). Ich kann hier unmöglich eine „objektive“ Sichtweise an den Tag legen. Dazu geht mir das zu nahe. Was gut ist. Dorför mok wi de kraam jo.

Ruhrpott-Regielegende Adolf Winkelmann sagte anlässlich der Dreharbeiten zu „Junges Licht“ (ebenfalls mit Charly Hübner), dass es ihm schwerfalle, überhaupt noch Drehorte zu finden, die nicht digital bearbeitet werden müssen. Zuviel Moderne allerorten. Ähnlich ging es Lars Jessen, weshalb sich das fiktive Brinkebüll aus einigen Ortschaften zusammensetzt und vor dem Dorfkrug für die früheren Zeitebenen noch ein Kopfsteinpflaster eingefügt werden musste.

Allein darin zeigt sich viel von dem, was „Mittagstunde“ inhaltlich ausmacht, sowohl als Roman als auch als Film. Da sind Veränderungen geschehen, die quasi eine Zeitenwende bedeuten. Die Flurbereinigung in den 1960er und 70er Jahren hat nicht nur die Landschaft verändert, sondern auch die Landwirtschaft und damit die ländliche Gesellschaft. Das Leben und Arbeiten. Die „Mittagstunde“ hat sich ja aus dem landwirtschaftlichen Arbeitsablauf heraus ergeben. Früh morgen uns lange abends auch muss das Vieh versorgt werden. Aber mittags ist Zeit, die kurze Nacht aufzuholen.

Een Kuddelmuddel mit uns

Veränderungen werden selten beredet, weil die Leute eher maulfaul sind. Was weg ist, ist weg. Aus dem Alltag. Aus dem Dorfschnack. Wenn da mal was kommt, dann ein treffsicherer Spruch. Is also doch noch im Kopp. Kommunikation geht dann anders – nonverbal. So auch mit Leuten. Wenn die weg sind, redet auch keiner mehr drüber. Wie bei Krögertochter Marret (Gro Swantje Kolhof), die ihren eigenen Rhythmus hatte. Un de genau wüsst het, dat de Welt ünnergeit.“ Dann ist sie selbst weg, einfach so. Auch Ingwer beschließt eines Tages zu gehen. zum Studieren nach Kiel. Für den Alten war das Im Stich Lassen. Wer soll den Dorfkrug übernehmen?

Als Ingwer zurückkommt, gibt es für die Kneipe gar kein Dorf mehr. Vereinzelte Übergebliebene und Ingwers Schulfreud Ketelsen, der jetzt Line Dance macht im Saal, wo kein Laientheater mehr vorgeführt wird und keine Erntefeste mehr gefeiert werden. Nur widerwillig lassen sich die Alten überhaupt von Ingwer umsorgen. Und der weiß selbst oft genug auch nicht, was gerade dran ist. Woher auch?

Doch genau dabei gucke ich den Charakteren gerne zu: Herausfinden, was gerade dran ist. Das ist im Film ebenso hinreißen realistisch und erdverbunden dargestellt wie es im Roman zu entdecken ist. Das Gefühl, dass die Menschen selbst herausfinden müssen, wie das alles geht. Leben und so; alt werden, sich erinnern. So wie der Film. In mehreren Zeit- und Erzählebenen. So wie auch schon bei „Altes Land“. Familie und Wahlfamilie – und Geheimnisse.

Husumer Beer ut de Buddel

Die Autorin Dörthe Hansen hat den Film „Mittagstunde“ begleitet und auch die plattdeutsche Sprachversion gescripted. Gleichfalls eine niederdeutsche Fassung zu haben, war allen Beteiligten wichtig. Es geht auch darum, bei Dialekt den regional richtigen Ton zu treffen. Das hat dazu geführt, dass der Film quasi zwei mal gedreht wurde. Jede Szene zuerst auf Hochdeutsch und dann auf Platt. Dabei veränderte sich die Stimmung. Zu merken auch im direkten Vergleich der beiden Fassungen.

Dörthe Hansen erwähnt auch, dass ihr Ingwer im Buch verhuschter ist als es Charly Hübner aufgrund seiner Körperlichkeit je sein könnte. Habe ich auch so gelesen. Und dennoch ist Charlys Ingwer anders wahr und genauso echt. Und das Ensemble ist nicht nur großartig gecastet, sondern spielt mit nordfriesischen Understatement hinreißend auf. Dat nützt nix, dor möt wi noch mol döör.

Ist das schon Heimatfilm oder noch großes Drama? „Mittagstunde“ ist immer so nahe an den Menschen, die so unnahbar wirken und windschief im Leben stehen wie der Westwind eben seit Generationen von der Nordsee weht. Kongenial erfassen das großartige Ensemble und auch die Filmcrew den wortkargen, bodenständigen Realismus dieser alltäglichen Poesie. Ist das schon Hoffnung oder ist das noch Trotz? Northern Soul auf Film.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Mittagstunde
OT: Mittagstunde
Genre: Drama,
Länge: 97 Minuten (+ 54 Minuten Extras), D, 2022
Regie: Lars Jessen
Vorlage: Roman von Dörthe Hansen
Darsteller: Charly Hübner, Gro Swantje Kolhof, Hildegard Schmahl, Peter Franke
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Majestic
EST: 23.02.2023
DVD-& BD-VÖ: 09.03.2023