Nationalfeiertag: Mariannes Blick

Es hat Tradition in der europäischen Graphic Novel sich auch mit Politik und Geschichte auseinanderzusetzen. In dem jüngst bei Schreiber & Leser erschienenen Thrillerdrama „Nationalfeiertag“ erzählen Illustrator Bastien Vivès und Szenarist Martin Quenehen von Alltag, Terrorismus und Angst aus der Sicht eine jungen Polizisten. Dabei scheint es ein ganz normaler Sommer in den Bergen zu sein.

Jimmy Girard ist Polizeianwärter und lebt und arbeitet in einem beschaulichen Städtchen in den französischen Alpen. Es ist (wahrscheinlich?) noch nicht lange her, dass sein Vater verstorben ist und Jimmy fühlt sich verantwortlich. Aber die Annäherungsversuche seiner Kollegin Stephanie weist er ab.

Bei einer Verkehrskontrolle stoppt Jimmy einen Vater mit Teenager-Tochter. Der Künstler aus Paris ist deutlich zu schnell gefahren. Wie sich herausstellt hat der Mann seine Ehefrau bei einem Bombenattentat verloren und nun will er hier im Vercors seine Trauer verarbeiten und wieder Malen. Tochter Lisa gibt wenig von sich Preis und bleibt stumm.

Doch Jimmy hat so ein Gefühl und er beobachtet die Urlauber auch in seiner Freizeit. Bei einer nächtlichen Observation bemerkt der junge Polizist einige Motorradfahrer vor dem Anwesen der Urlauber. Tage später dann ist die Tochter verschwunden. Aber auch der Maler benimmt sich merkwürdig und unternimmt nächtliche Ausfahrten in die Nachbarstadt. Was will der Maler in muslimischen Wohngegenden?

Sommerliche Idylle im Gebirge

Die eigentliche Geschichte beginnt mit einer Verkehrskontrolle. Allerdings ist auch hier schon ein gewisser angespannter Ton gesetzt, da der Prolog mit einer Beisetzung beginnt. Nun weiß die Leserschaft nicht, um was für eine Art Polizeikontrolle es sich handelt. In heutigen Zeiten ist ja vieles denkbar und realistisch. Doch es ist nur eine Verkehrskontrolle.

Allerdings eine folgenreiche, denn der Raser und seine Tochter geraten in das Visier eines eilfertigen Polizisten. Jimmy redet nicht viel, ist aber dienstbeflissen und sehr besorgt bezüglich terroristischer Aktivitäten. Das mag mit dem Tod seines Vaters zu tun haben, der im Unklaren bleibt. Was hingegen immer vordergründiger wird, ist die angespannte Stimmung gegenüber Fremden, die Furcht vor Eskalation und Gewalt von welcher Seite auch immer. Und vielleicht hat Jimmy auch ein Auge auf die junge Lisa geworfen?

Es sind kleine Bemerkungen und Begebenheiten, die in „Nationalfeiertag“ für eine zunehmende Paranoia und Überempfindlichkeit sorgen, die nicht nur in der vermeidlichen Idylle des Bergstädtchens zu spüren sind, sondern sich auch auf die Leser:innen übertragen. Da ist von Demonstranten gegen die Zuwanderungspolitik die Rede, da sind „Zigeuner“ nahe der Stadt gesichtet worden.

Da geschehen andernorts rassistische und religiöse Konflikte und bald ist der Nationalfeiertag. In jedem Gemeindeflecken des Landes wird öffentlich gefeiert und seit 2016 in Nizza ein Kleintransporter in eine Menge gerast ist sind die Ordnungskräfte alarmiert (tatsächlich geschehen). So auch Jimmy, der seine eigene Agenda hat und irgendwie in ein Missverständnis hineingerät, das durchaus Gefahrenpotential hat.

Gefährdungspotential und Hypersensibilität

Bastien Vivès, der auch für das Szenario mitverantwortlich ist, hat es seit Herbst 2022 mit Anschuldigungen zu tun, dass Teile seines Werkes Pädophilie und sexuelle Gewalt verharmlosen würden. Eine geplante Ausstellung seiner Werke in Angoleme wurde daraufhin abgesagt. Das ist für die vorliegende Graphic Novel inhaltlich nicht relevant, kann aber doch nicht unerwähnt bleiben. Was an den Vorwürfen letztlich dran ist und was als künstlerischer Ausdruck legitim, kann ich weder beurteilen, noch lässt sich das von hieraus vertiefen, da die betroffenen Alben hierzulande auch nicht veröffentlicht wurden.

Bastien Vives, der nach wie vor als einer der aufstrebenden Stars der französischen Comic-Szene gilt, hat bereits etliche Werke vorgelegt. Viele sind bei Reprodukt erschienen, die Kooperation mit Szenarist Martin Quehenen an einen „Corto Maltese“-Band („Schwarzer Ozean“) ist bei Schreiber & Leser veröffentlicht worden.

In Frankreich erschien „Schwarzer Ozean“ 2021 im Castermann Verlag, wo 2020 „Nationalfeiertag“ veröffentlicht wurde. Und der Illustrationsstil von Bastien Vivès ist schon sehr charakteristisch. Sowohl in „Schwarzer Ozean“ als auch in „Nationalfeiertag“ wird viel mit grauen Farbflächen und flächigen Schattierungen gearbeitet. Das sorgt für eine zwar monochrome, aber doch schillernde Lebendigkeit, die viele Stimmungen zu erzeugen weiß.

Blicken ausweichen

Auch ist es Vivès Stil die Panels vergleichsweise schlicht zu halten und die Hintergründe selten einmal auszuformulieren. Dadurch entsteht ein zeitloser, fast abstrakter Raum, der auch Platz für die Vorstellungen der Leserschaft lässt. Die Bilder atmen, so wie das auch in einigen Filmen der Fall ist, die Imaginationsräume eröffnen.

In „Nationalfeiertag“ ist das nicht nur sehr willkommen, sondern geradezu notwendig, denn die spärlichen Dialoge und die schlichte Handlung geben kaum Aufschluss über die Motive und die Zusammenhänge der Geschichte. Und gerade die wendungsreiche und vielschichtige Beobachtung französischer Befindlichkeit im Angesicht der Bedrohung ist großartig gelungen.

Quasi nur durch die Beobachtung des jungen Polizisten Jimmy gelingt es der Story sehr unterschiedliche Aspekte und Befindlichkeiten auszuloten. Im Angesicht terroristischer Bedrohung und revanchistischer Fremdenfeindlichkeit ist immer noch Platz für subjektive Trauer, Wut und Angst. Zusammengehalten durch Pflichtgefühl und eigene Moralvorstellungen.

Statt zu langen Mono-und Dialogen auszuholen, inszenieren Vives und Quenehen die Figuren mit immer größerer Distanz zueinander. Die Furcht macht es zunehmend unmöglich dem Gegenüber in die Augen zu blicken. So muss sich an der Silhouette zeigen, wie präsent die Bedrohung der Begegnung ist. Vives verzichtet auch oft darauf, Augen überhaupt zu zeichnen. Es ist erstaunlich wie sehr dadurch die Freiheit selbst dem kritischen Blick ausweicht, fast so als würde Marianne auf Delacroix‘ Gemälde mit geschlossenen Augen in die Julirevolution stürmen.

Die packende französische Graphic Novel „Nationalfeiertag“ hat ihrer Stärken weniger im Thriller-Aspekt der Geschichte als in der subtilen Psychologie und der dramatischen Zuspitzung der Geschehnisse. Angesichts der stetig mehr werdenden Brennpunkte in westlichen Gesellschaften ist „Nationalfeiertag“ ein beachtliches, sehr differenziertes literarisches Statement. Ein Comic für Erwachsene.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Nationalfeiertag
OT: Quattorze Joulliet, Caterman, 2020
Genre: Graphic Novel, Drama
Szenario: Bastien Vivès & Martin Quenehen
Illustrationen: Bastien Vivès
Übersetzung: Resl Rebiersch
Verlag: Schreiber & Leser, gebunden, 252 Seiten
VÖ: Januar 2023

Nationalfeiertag bei Schreiber & Leser