Der junge Inspektor Morse – Staffel 6: Zahl oder Kopf?

Fans haben sicher schon darauf gewartet, dass Edel Motion auch die sechste Staffel der britischen Krimi-Serie „Der junge Inspektor Morse“ auf DVD für das klassische Home-Entertainment veröffentlicht. Die Staffel wurde auf ZDFneo bereits als TV-Premiere im Oktober vergangenen Jahres ausgestrahlt, im direkten Anschluss an die fünfte Saison. Nun endlich gehen die Ermittlungen im Oxford der ausgehenden Sixties weiter. Doch Fans sollten sich auf einige Veränderungen gefasst machen.

Nein, es geht nicht nur um den Oberlippenbart, den sich Endeavour Morse (Shaun Evans) hat stehen lassen, seit er als Dorfpolizist in Woodstock wieder Uniform tragen muss. Aber dazu später mehr. Zunächst zu dem, was Umgangssprachlich auch „Pornobalken“ genannt wird und in den gesamten vier spielfilmlangen, jeweils in sich abgeschlossene Ermittlungen dieser Staffel die Oberlippe des ansonsten smarten Morse ziert.

Der Schnauzer ist nicht nur ein sichtbares Zeichen von innerer Veränderung wie das bei der Damenwelt häufig eine neue Frisur ist, sondern vielleicht in der Tat eine Anspielung an den Zeitgeist, denn der saloppe Name „Pornobalken“, der auch einen Zensurbalken in Film oder Foto bezeichnet, ist tatsächlich nach dem Pornodarsteller John Holmes benannt, der seine Karriere 1969 begann.

Aber Zuschauer:innen können den Bart auch anders sehen. Gerade in Kombination mit einer Uniform wirkt Morse viel mehr wie ein melancholischer Offizier in der Kolonialzeit, was die Versetzung in die Provinz ja auch ist. Oder aber – etwas frecher interpretiert, weil die Briten die Franzosen ja nicht sonderlich mögen – es ist eine Hommage an „Asterix“ und das kleine gallische Dorf, das den Römern Widerstand bietet, so wie Morse der Ignoranz seiner neuen Vorgesetzten und Kollegen. Viel zu denken also über ein kleines bisschen Gesichtsbehaarung, einen scheinbar harmlosen modischen Gag.

Das Who’s Who des Oxford-Krimis

Bevor es mit der Dienststelle Woodstock nahtlos in den ersten Fall der sechsten Staffel von „Der junge Inspektor Morse“ geht, noch ein paar Worte zu der Erfolgsserie des britischen Senders ITV und ihrer Herkunft. Erdacht hat den Inspektor Endeavour Morse der britische Krimi-Autor Colin Dexter (verstorben 2017), der mit seinen in Oxford angesiedelten Romanen klassische „Who dunnit?“ (Wer war’s?) Krimis vorgelegt hat. Nach den Romanen und darüber hinaus entstand ab 1987 die sehr erfolgreiche TV-Serie „Inspector Morse“, gefolgt von „Lewis – Der Oxford Krimi“, in der Morses ehemaliger Assistent nun als Chef ermittelt. Seit 2012 taucht die Serie „Der junge Inspektor Morse“ (OT: „Endeavour“) ebenfalls äußerst erfolgreich in die Anfangszeit des jungen Detektivs.

Die Serien bestehen jeweils aus spielfilmlangen Kriminalfällen, die mehr oder minder durch wiederkehrende und sich entwickelnde Handlungselemente angereichert werden. Zuschauer:innen können also bedenkenlos jederzeit einfach einsteigen und einschalten, aber es macht wesentlich mehr Spaß, wenn man die vorangegangenen Entwicklungen auf der Dienststelle und in den Privatleben der Charaktere kennt. Ganz besonders gilt das für diese sechste Staffel, da in der vorangegangenen Saison einige Verwerfungen stattgefunden haben. Diese werden auf diesen Seiten nicht als Spoiler behandelt, da sie ja bereits veröffentlicht sind. Ich gebe mir aber Mühe, nicht zuviel zu verraten. Jetzt geht’s endlich los.

„Unschuldig“

Was macht Endeavour Morse denn als Polizist in der Dorfdienststelle Woodstock? Fragt sich nicht nur DS (Detective Sergeant) Jim Strange (Sean Rigby), der den ehemaligen Kollegen mal besucht. Morses Antwort in der Auftaktfolge „Unschuldig“ (OT: Pylon) ist schlicht und pragmatisch. Da man für ihn in der zusammengelegten Mordkommission keinen Platz hatte, stand er vor der Wahl, den Dienst zu quittieren, oder zur Ordnungspolizei zu gehen, und ihm fiel nichts Besseres ein. Auch von Stranges Bemühungen den Mord an einem jungen Kollegen, der bei einer Razzia erschossen wurde, will Morse nichts wissen. Für ihn ist das alte Team Geschichte.

Freilich erwacht der ausggeprägte Jagdinstinkt, als er zu einer Farm gerufen wird, wo ein Schimmel ausgebüxt ist. Morse entdeckt nicht nur das Pferd, sondern auch die Leiche eines Schulmädchens. Der neue Chefinspektor (DCI) Ronny Box (Simon Harrison), unter dem der degradierte Thursday (Roger Allem) nun Dienst tun muss, weil das Ruhestands-Ersparte für einen familiären Gefallen draufgegangen ist, will von Morse keine Mitarbeit. Morse ermittelt trotzdem. Die Suche nach einem kleinkriminellen Drogenabhängigen, der in der Gegend aufgetaucht ist, bringt den Streifenpolizisten immer wieder in den Dunstkreis der Mordermittlung.

Man, ist das duster hier. Was sich mit den Dramen und der Zusammenlegung der Polizeistellen bereits in Staffel fünf ankündigte, wird von Drehbuchautor Russel Lewis konsequent weiter ausgearbeitet. Die Zeiten werden zynischer, anonymer und egoistischer. Das Verbrechen organisiert sich und wird brutaler und willkürlicher. Die Auftaktfolge punktet mit starker, aber gewöhnungsbedürftig trister Atmosphäre und gewohnt vertrackten Ermittlungen. (7,5/10)

„Apollo“

Während sich die Welt die Mondlandung in Fernsehen anschaut, ermittelt Morse bei einem tödlichen Unfall. Wegen seiner Kompetenz zurückgeholt, von dem Vorgesetzten aber in ein Keller-Kabuff verbannt, nimmt sich Morse Zeit, den tödlichen Autounfall genauer zu untersuchen, bei dem ein junger Astrophysiker und seine Freundin gestorben sind. Jemand hat das Auto manipuliert.

Zunächst sind die Kollegen des Physikers verdächtig. Denkbar aber auch, dass der Mordversuch einem anderen Gast auf einer Swingerparty gegolten hat. Immer wieder drängen DCI Box und DS Alan Jago (Richard Riddell) Morse zu Eile, doch der ehemalige Chief Superintendant Bright (Anton Lesser), der jetzt demütigender Weise die Verkehrspolizei leitet, hält Morse den Rücken frei so gut es geht.

Bei „Apollo“ (OT: Apollo“) führte Hauptdarsteller Shaun Evans erstmals auch Regie. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und fällt keineswegs hinter die gewohnte Serienqualität zurück. Der Fall jedoch gehört leider zu den schwächeren der Serie. Zu oft wird der Zuschauer auf falsche Fährten geführt, zu häufig wechselt der Schauplatz und letztlich ist die Ermittlungsarbeit weniger überzeugend als sonst. Dafür hat Fred Thursday einigen häuslichen Stress und Tochter Joan (Sara Wickers) hat als Gehilfin einer Anwältin eine neue Berufung gefunden. Jim Strange glaubt an eine Verschwörung innerhalb der Dienststelle. (6/10)

Zuckerguss

Im dritten Fall der Staffel „Zuckerguss“ (OT: Confection) bekommt es Morse mit dem Mord an einem Schokoladenhersteller zu tun. In dem verschlafenen Nest Chigton Green gibt es wenige Attraktionen außer der Schokoladenfabrik. Das einst beliebte Konfekt der Fabrik ist ein wenig aus der Mode gekommen, aber alle erinnern sich gerne an die Sammelkarten in den Schachteln. Allerdings stolpert Morse bei seinen Nachforschungen zum Jagdunfall des Toten über unschönen Dorftratsch. Jemand verschickt anonym Botschaften mit den Fehltritten der Nachbarn. Das sorgt für einigen Unmut und etliche Verdächtige.

Überhaupt gefällt es Endeavour ganz gut in Chigton Green und er überlegt, sich hier ein Haus zuzulegen. Das hat nicht nur mit der reizenden alleinerziehenden Tochter des Dorfarztes zu tun. Derweil bekommt Bright schlechte Nachrichten und Thursday wird endlich von Box in den Kreis der Eingeweihten berufen, als der ihm einen Geldumschlag anbietet.

Ein wenig erinnert der Fall unter der Regie von Leane Welham an die Szenerie in dem beschaulichen fiktiven Örtchen Stepford. „Die Frauen von Stepford“ zeichnete 1972 als Roman und später als Film die dystopische Vision einer scheinbar idyllischen Gemeinde, in der alle ferngesteuert freundlich erscheinen. Doch die ländliche Beschaulichkeit tut der „Endeavour“-Serie gut, der vermeintliche Optimismus erfrischt, selbst wenn letztlich wieder Etliches davon in Rauch aufgeht. Kriminalistisch ist „Zuckerguss“ der stärkste Fall der sechsten Staffel. (8,5/10)

Wolkenschloss

Die Moderne hält auch im traditionsbehafteten Oxford Einzug als der erste Wolkenkratzer fertiggestellt wird. Das soziale Wohnungsbauprojekt wird mit viel Medienrummel eröffnet, aber bald zeigen sich Bauschäden. Die rufen unter anderem die sozial engagierte Anwältin Viv Wall und ihre Assistentin Joan Thursday auf den Plan. Dann überschattet eine Katastrophe in Oxford alles.

Morse ist derweil mit den scheinbar ansatzlosen Mord eines Universitäts-Bibliothekars beschäftigt, der sich nicht erschließen will. Weder gibt es ein Motiv noch eine Spur. Erst eine Leiche im Keller bringt auch die Ermittlungen auch in Sachen Mord voran. Chief Superindendent Bright erfährt daraufhin wie eng Politik, Wirtschaft und Polizeiarbeit tatsächlich verknüpft sind. Stranges Privatermittlungen zeigen derweil langsam erste Erfolge.

Wie Zuschauer:innen es auch aus den bisherigen Staffeln gewohnt wird, so werden auch in der abschließenden Folge „Wolkenschloss“ (OT: „Degüello“) die Leitmotive zusammengeführt, die durchgehenden Handlungselemente einer Auflösung entgegengetrieben. Dabei nimmt die Folge bezug auf das Ronan Point Hochhaus in Ost-London, das 1969 zu trauriger Berühmtheit kam.

In diesem Fall geht es beinahe westernmäßig zum Showdown, der Originaltitel deutet das an: Degüello kommt aus dem Spanischen und bedeutet „Enthauptung“ oder auch „jemanden mit allem Mitteln fertig machen“. die Frage bleibt, ob es reicht, wenn eine Handvoll Aufrechter sich dem Verbrechen entgegenstellt. „Wir sind City Men! Das ist was zählt.“, behauptet zumindest Strange. Ein fulminantes Ende für eine gelungene, sehenswerte Staffel „Der junge Inspektor Morse“. (9/10)

Wie immer sind auf den DVDs noch Interviews mit Cast und Crew zu sehen, die großteils unterhaltsam und aufschlussreich sind, aber wenig über Zukünftiges verraten. Von Abnutznungserscheinungen bislang kaum Spuren. Zuschauer:innen bleiben gespannt wie es weitergehen wird. Eine siebente Staffel wurde 2020 ausgestrahlt, eine achte ist für dieses Jahr geplant und soll drei Fälle umfassen. Wobei die Corona-Pandemie den Machern eventuell noch in die Quere kommt.

Immerhin hätte Drehbuch-Autor Russel Lewis noch einige Jahre zu überbrücken, bis er dort ankommt, wo Krimi-Autor Colin Dexter seinen Inspektor Morse 1975 erstmals ermitteln ließ. Morses literarisch erster Fall wurde bereits in der „Inspektor Morse“-Serie verfilmt. Seinerzeit fuhr „Der letzte Bus nach Woodstock“, wo wir Endeavour zum Staffelbeginn aufgelesen haben.

Insgesamt ist die sechste Staffel der britischen Erfolgs-Krimi-Serie „Endeavour“ wesentlich düstere und rabiater ausgefallen als die vorangegangen, die auch immer einen Hauch von Nostalgie für die Sechziger mitschwingen ließen. Nun scheint das Paradies endgültig verloren, um hier mal John Milton zu strapazieren. Nichtsdestotrotz bleibt „Der junge Inspektor Morse“ herausragende Krimi-Unterhaltung.

Serien-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Der junge Inspektor Morse – Staffel 6
OT: Endeavour, Season 6
Genre: TV-Serie, Krimi,
Länge: ca. 360 Minuten (4x 90 Min.) + Bonus, UK, 2019
Idee & Drehbücher: Russel Lewis, nach Charakteren von Colin Dexter
Regie: Johnny Kenton, Shaun Evans, Leane Welham, Lee Donougue.
Darsteller: Shaun Evans, Roger Allam, Sean Rigby, Anton Lesser, Abigail Thaw,
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Edel Motion,
DVD-VÖ: 29.01.2021

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„Der junge Inspektor Morse“ beim ZDF