Der in der englischen Universitätsstadt Oxford seine Kreise ziehende Inspektor Morse aus der Feder des im Frühjahr 2017 verstorbenen Kriminalautors Colin Dexter, gehört mittlerweile zu den großen Figuren des klassischen Kriminalromans. Kein Wunder also, dass die entsprechende, ebenso kultige TV-Serie noch immer weltweit (außer in Deutschland) mit guten Quoten ausgestrahlt wird. So eine Figur neu zu erfinden ist keine leichte Aufgabe und dennoch gelingt der hochgelobten ITV-Erfolgsserie „Der junge Inspektor Morse“ genau das. Seit Anfang September strahlt ZDF Neo die Fälle des jungen Polizisten aus. Bei Edel: Motion ist Anfang Oktober die erste Staffel der Krimiserie auf DVD für das Home-entertainment erschienen.
Manchmal scheinen die öffentlich-rechtlichen TV Sender in Deutschland eine recht lange Leitung zu haben. Oder anders formuliert: während der Rest der Welt sich schon seit 2013 in Lobeshymnen für die TV-Serie „Der junge Inspektor Morse“ ergeht und anhimmelnd vor der Glotze sitzt, dauert es etliche Jahre, bevor sich das ZDF bequemt, den Krimi-Kracher mit dem Retro-Charme im sonntäglichen Vorabendprogramm des Spartensenders ZDFNeo zu verstecken. Dort allerdings werden kontinuierlich über drei Monate hinweg Woche um Woche Perlen des klassischen TV-Krimis ausgestrahlt. Absurd genug, aber die Verantwortlichen mögen sich irgendetwas dabei denken. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen den ollen „Lewis“ erst einmal zu Ende ausstrahlen, bevor wir da eine neue Serie, die in Oxford spielt, ins Programm nehmen können.
Krimi-Stadt Oxford im Retrocharme der 1960er
Wie auch immer: Der Auftakt der neuen britischen Erfolgsserie ist nun für das Home-Entertainment erschienen. So macht die Sichtung unabhängig von Programmzeiten richtig Spaß. Verantwortlich für die Serie ist der Drehbuchautor Russel Lewis, der schon zu den TV-Erfolgen „Inspektor Morse“ und „Lewis – Der Oxford-Krimi“ einige Drehbücher beisteuerte. Nun hat Russel Lewis quasi die inhaltliche Oberleitung über „Endeavour“ inne, wie die Serie im englischen Original heißt. Und das mit beachtlichem Erfolg. Seit der Pilotserie im Herbst 2012 wurden vier Staffeln ausgestrahlt (eine fünfte ist angekündigt) und sorgen für traumhafte Einschaltquoten, auch bei den jüngeren Zuschauern.
Der Erfolg der Serie hat viele Gründe. Die Produzenten machen so ziemlich alles richtig und sind sich der Tradition von Colin Dexter, „Inspektor Morse“ und „Lewis“ bewusst. Vor allem aber liegt es an der großartigen hochklassigen Besetzung und den großartig geschriebenen, vertrackten klassischen Krimi-Rätseln. Denn wie seine Vorgängerserien ist auch „Der junge Inspektor Morse“, der eigentlich noch gar kein Inspektor ist, ein klassiches „Whodunnit?“, also eine kriminalistische, puzzleartige Suche nach dem Täter. Der Aufbau der TV-Episoden ist zwar formal immer ähnlich, aber es gelingt der aufwändigen Produktion viel Zeitkolorit aus den 1960er Jahren einzuflechten, und auch die Fälle oftmals auf die damalige Zeit abzustimmen und trotzdem moderne Krimi- und Serienunterhaltung abzuliefern.
Ein Gedicht – Pilotfolge
In der Pilotfolge „Ein Gedicht“ (im Original nicht betitelt), verschwindet in Oxford ein junges Mädchen. Daher bittet die Stadtpolizei bei der Suche um die Unterstützung aus dem Landkreis. So kommt auch der junge Constable Endeavour Morse (Shaun Evans) zurück in jene Stadt, in der er vor Jahren sein Studium hingeschmissen hat. Eigentlich war der unbeliebte Eigenbrödler gerade dabei, seine Kündigung einzureichen. Doch der Kriminalfall reizt den passionierten Kreuzworträtsel-Fan. Obwohl die Unterstützung aus dem Landkreis nur für die leidige Fleißarbeit und die Befragungen hinzugezogen wurde, legt Morse eigenständiges Interesse an den Tag. Das bleibt auch dem Inspektor Fred Thursday (Roger Allam) nicht verborgen. Während seine untergebenen Sergeanten wahllos im Nebel stochern, hat Morse zumindest eine Theorie anzubieten, wenn auch eine vollkommen abwegige…
Die Pilotfolge setzt das Tempo und die Trademarks der erfolgreichen Serie fest. der junge Morse wird als wortkarger, aber passionierter Außenseiter etabliert, der (noch nicht) trinkt und im Gegensatz zu seinen Kollegen zu einer hervorragenden Beobachtung, einer großen Intelligenz und vor allem einer angeregten Fantasie hat, die ihm bei der Ermittlungsarbeit zu Gute kommt. Gleichzeitig stellt sein späterer Vorgesetzter Fred Thursday aber auch fest, dass Morse zwar „ein genialer Ermittler, aber ein lausiger Polizist“ ist. Und bei seinen Vorgesetzten und Kollegen macht sich Morse auch nicht gerade beliebt, wenn er Anweisungen missachtet und offen widerspricht, wenn taktieren angesagt wäre.
„Mädchen“ (OT „Girl“) & Fuge (OT: Fugue)
In „Mädchen“ (OT „Girl“) hat Inspektor Thursday den jungen Morse dann unter seine Fittiche genommen. Dem neuen Chief Superintendant Bright (Anton Lesser) schmeckt das nicht besonders. Bright ist der Meinung, ranghöhere Detectives sollten Thursday unterstützen. Der junge Morse habe vor allem zu viele Flausen im Kopf. Vielleicht spielen auch Standesdünkel eine Rolle, wenn Bright den ehemaligen Oxford-Studenten in die Schranken weist. Aber wer will bei dem Herzinfarkt einer jungen Frau denn auch eine komplizierte Ermittlung? Kann doch mal vorkommen.
In „Fuge“ (OT: „Fugue“) kommt Morse seine Liebe für Opern zu Gute, denn so erkennt er einen Zusammenhang zwischen den ungewöhnlichen Todesfällen einer untreuen Ehefrau und einer alte Botanikerin. An beiden Tatorten wurden tödliche Schlüsselszenen aus berühmten Arien gefunden. Aber von der Hypothese, in Oxford schleiche ein Serienmörder herum, der Operntode nachahmt, wollen die Polizeioberen nichts wissen.
„Rakete (OT: „Rocket“)
Für die Stadt Oxford ist royaler Besuch schon eine Besonderheit. Dabei kommt Prinzessin Anne hauptsächlich vorbei, damit ein Waffengeschäft mit Saudi-Arabien zu Stande kommt. Aber in „Rakete (OT: „Rocket“) geht auch das nicht ohne Mord ab. Ein ehemaliger Arbeiter der traditionsreichen Waffenfabrik wird tot aufgefunden. Während die Besitzer gerade über eine Firmenfusion verhandeln, kommt heraus, dass die Familie schon einmal in das Verschwinden eines jungen Mädchens verwickelt war. Constable Strange („Sean Rigby“), mit dem sich Morse ein wenig angefreundet hat, ist noch immer ganz von der Prinzessin verzaubert. Indes sorgt sich Bright darum, das Königshaus nicht mit den Ermittlungen zu behelligen. Morses Vorgesetztem, Detective Sergeant Jakes (Jack Laskey), geht der Emporkömmling langsam etwas auf den Senkel. Nur Thursday versucht, Morse eine lange Leine zu lassen. Und ein bisschen Hilfe von der Presse in Gestalt von Reporterin Dorothea Frazil (Abigail Thaw) nimmt Morse gelegentlich auch gerne an.
„Zuhause“ (OT: „Home“)
In der abschließenden Episode „Zuhause“ (OT: „Home“) ermittelt die Oxforder Polizei in einem Fall von Fahrerflucht mit Todesfolge als Morse die Nachricht erreicht, dass es seinem Vater schlecht gehen würde. Morse macht sich auf den Weg, aber der rätselhafte Fall lässt ihn doch nicht ganz los. Zudem tauchen in Oxfords Nachtleben alte Bekannte aus Thursdays Vergangenheit auf, die nun hier ihr Revier klarmachen wollen und dafür auch Thursdays Familie bedrohen. Natürlich ist sich der Inspektor das nicht gefallen. Derweil bändelt Sergeant Jakes mit Thursdays Tochter Joan an.
Zeitkolorit und Krimirätsel
Das Schöne an „Der junge Inspektor Morse“ ist die entspannte Gelassenheit und britische Zurückhaltung, mit der hier Figuren, Szenen und Themen entwickelt werden. Manch einer mag das für gemächlich halten, aber so haben die Eindrücke auch Zeit, nachzuwirken und sich beim Zuschauer festzusetzen. Zum Miträtseln bei der Täterermittlung ist das unverzichtbar, aber auch die schönen Sixties-Details wären schlicht verschwendet, wenn man keine Zeit hätte, sie in Ruhe wahrzunehmen. Und die Spannung baut sich auf diese Weise langsam und gehaltvoll auf.
Auch die Titelmusik der Serie, die wie bereits die Themen von „Lewis – Der Oxford-Krimi“ und „Inspektor Morse“ von Barrington Pheloung stammen sorgen für eine gewisse klangliche „Corporate Identity“. Selbst wenn man nicht wüsste, dass diese drei TV-Krimi-Serien zusammenhängen, die Ähnlichkeit der musikalischen Motive würde einen darauf stoßen.
überzeugendes Schauspieler-Ensemble
Bei aller Lobhudelei steht und fällt ein erfolgreiches TV-Serienformat aber vor allem mit den Darstellern. Und Shaun Evans brilliert in der Rolle des jungen Morse, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat. Häufig genug steht Morse mit großen staunenden oder fragenden Augen vor den kriminellen Abgründen dieser Welt. Zusammen mit dem väterlichen Vorgesetzten, Inspector Thursday, der von Roger Allam ebenfalls sehr charmant verkörpert wird, ergibt das ein sehr dynamische und erstaunlich modernes Duo für die Sixties. Das Jahrzehnt ist in der ersten Saffel der Serie noch weit davon entfernt, irgendwann einmal mehr Freiheit und Offenheit in die Gesellschaft zu bringen. Diese Oxford ist nicht nur traditionsbewusst, es ist spießig. Männerbünde- und Seilschaften sorgen auch bei der Polizei dafür, dass das vorerst so bleibt.
Mit dem Auftakt der TV-Krimiserie „Der junge Inspektor Morse“ ist den Machern eine kleine Sensation gelungen. Lange waren typische „Whodunnit“-Krimis nicht mehr so sexy und so gut inszeniert. Die spielfilmlangen Fälle sind jeweils abgeschlossen, aber die roten Fäden werden weitergesponnen und die Figuren entwickeln sich auf interessante und realistische Weise.
Serien-Wertung: (9 / 10)
Der junge Inspektor Morse – Staffel 1
OT: Endeavour, Pilot & Season 1, 2012, 2013
Genre: TV-Serie, Krimi,
Länge: 450 Minuten (5x 90 Min.), UK, 2012,2013
Idee & Drehbücher: Russel Lewis, nach Charakteren von Colin Dexter
Regie: Colm McCarthy, Edward Bazalgette, Tom Vaughn, Craig Viveiros,
Darsteller: Shaun Evans, Roger Allam, Jack Lasky, Sean Rigby, Anton Lesser, Abigail Thaw
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Edel Motion,
DVD-VÖ: 02.10.2017