Ihr Jahrhundert: Frauen erzählen Geschichte

Rechtzeitig zum Weltfrauentag kommt „Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte“ in die Kinos. Regisseur Uli Gauke hat fünf Frauen aus fünf Ländern getroffen, die alle schon 100 Jahre auf dem Planeten sind. Die straken Protagonistinnenn erzählen aus ihrem Leben und quasi nebenbei auch von historischen Wegmarken. Daraus ist eine etwas herkömmliche, aber sehenswerte Doku entstanden. Mindjazz Pictures bringt „Ihr Jahrhundert“ am 7. März 2024 in die Kinos.


Was haben eine Yogalehrerin, eine Sozialwissenschaftlerin, eine Geschichtenerzählerin, eine Schriftstellerin und eine Geheimagentin gemeinsam? In „Ihr Jahrhundert“ ist die Gemeinsamkeit, dass alle fünf Frauen einhundert Jahre alt sind. Die von Arne Birkenstock („Beltracchi“) und Laryssa Strong produzierte Doku trifft in Indien die 100jährige Yoga-Lehrerin Nanammal Amma, die zu Zeit der Dreharbeiten immer noch Kurse gibt.

In Österreich begleitet der Film die 100jährige Schriftstellerin Ilse Helbig, die erst mit 80 Jahren ihr literarisches Debüt gab. In der Türkei porträtiert die Doku die Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Doktor Nermin Abadan-Unat, die mit 101 Jahren immer noch Pläne schmiedet und ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgeht. Auf Kuba trifft das Publikum auf die 104jährige Geschichtenerzählerin Haydée Artaga Rojas und in Israel die 102jährige Politikerin und Geheimagentin Tamar Ershel.

„Wonder Woman im Knesset“

Diese fünf Frauen erzählen aus ihrem bewegten Leben und von ihrer Herkunft. So setzt die Erzählung der Israelischen Geheimagentin mit der Auswanderung ihrer Eltern aus Russland an. aufgrund von Pogromen im Jahr 1881 beschloss die Großfamilie nach Palästina auszuwandern. Das Thema Migration bleibt der späteren Geheimagentin erhalten, als sie im Auftrag von Ben Gurion Juden von Marseille nach Palästina bringen soll. Später wird sie im israelischen Parlament eine aktive Politikerin.

Anders die österreichische Schriftstellerin Ilse Helbich, die vor allem erinnert, wie sie als Mädchen ungerecht behandelt wurde. Bei der Mitarbeit in der elterlichen Holzmühle tat sich die junge Ilse fleißig hervor, wurde aber anders als die Arbeiter und die Brüder nicht bezahlt, weil für Mädchen kein Lohn vorgesehen war. es scheint, als hätte sich das Streben nach Gerechtigkeit und Gleichbehandlung als Leben- und später als literarisches Thema herausgestellt.

Die kubanische Geschichtenerzählerin Haydée Artaga Rojas erinnert hingegen eine weitgehend glückliche Kindheit, weil sie früh lesen und schreiben konnte. Daraus ist neben der Familie auch eine Berufung in Oral History entstanden. „Alle mochten mich, weil ich rezitieren konnte.“

„Wenn sie 100 sind, dann sterben sie bald?“

Die Yogalehrerin Nanammal Amma hat sich zeitlebens für Heilung durch praktiziertes Yoga interessiert. In späteren Jahren wurde sie als weise Frau und erfahrene Lehrerin von vielen jüngeren konsultiert und gibt immer noch Kurse auch für Kinder. die bestürmen sie dann mit Fragen. Doch Nanammal erinnert sich auch, dass sie in den frühen Jahren ihrer Ehe von ihrer Schwiegermutter beim Yoga erwischt und verpetzt wurde. Glücklicherweise zeigte sich ihr Ehemann interessiert und erlaube ihr die weitere Betätigung.

Den fünf Frauen ist nicht nur das hohe Alter gemeinsam, sondern auch ein durchaus hoher Bildungsstand. immer wieder ist im Leben der Frauen Familie, Tradition und Selbstbestimmtheit Thema. Jede hat die daraus entstandenen Konflikte anders gelöst und einen Weg gefunden, ein erfülltes Leben zu führen. Das wird in Uli Gaukes Doku schnell klar und es lohnt sich den Frauen zuzuhören.

Ihre Zeitzeugenschaft umfasst nicht nur den eigenen Lebensbereich, sondern immer wieder auch große weltgeschichtliche Ereignisse. Wie die Gründung des Staates Israel, das jugendliche Erleben des Nationalsozialismus, die indische Unabhängigkeit und das Zeugnis über das Konzentrationslager in Treblinka mit einer internationalen Abordnung.

„“Wäre mein Vater nicht gestorben, ich wäre ein Null gewesen.“

Die türkische Sozialwissenschaftlerin Nermin Abadan-Unat erzählt, dass ihr aus Izmir stammender Vater seine aus Stettin stammende Frau in Wien kennengelernt hat. Auch Frau Abadan-Unat hat ihre Kindheit als Mädchen eher in schlechter Erinnerung. Der Trotz gegen den traditionalistischen und früh gestorbenen Vater war ihr lange ein Antrieb. die säkulare Öffnung der türkischen Gesellschaft unter Attatürk ein Segen. Hier wurden Mädchen und Jungen zusammen in der Schule unterrichtet.

All das sind große Verwerfungen, die sich auch im Persönlichen widerspiegeln und interessant zu hören sind. Der große Verdienst dieses Films liegt darin, Zeitzeuginnen und ihre weibliche Perspektive für die Nachwelt festgehalten zu haben. Inzwischen sind drei der im Film gezeigten Frauen verstorben, doch ihr Andenken und ihre Geschichte leben weiter. Regisseur Uli Gauke („Havanna mi amor“, „As Time goes by in Shanghai“) gibt ein würdevolles Bild der vorgestellten Damen.

„Wäre meine Großmutter heute noch am Leben, hätte ich mich auch sehr gefreut“

Bei dokumentarfilmischen Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen Gegenstand, stellt sich immer die Frage, in wie weit das leinwandtauglich ist? Oder ob sich nicht vielleicht eine TV-Serie angeboten hätte, bei der Jede Frau eine eigene Folge bestritten hätte? Anlässlich des Weltfrauentages werden sicher auch Kinoveranstaltungen mit Gastrednerinnen und Diskussionen stattfinden.

Themenzentrierte Dokus können aber auch in anderen Formaten bestechen. Souverän recherchiert und mit stimmigem, informativem Archivmaterial ausgestattet ist „Ihr Jahrhundert“ ohnehin. Möglicherweise hätte es dem Flow des Films gutgetan, die Erzählungen der Frauen weniger häufig gegeneinander zu stellen. Mehr als dreißig Mal wird zwischen den Protagonisten hin- und her gewechselt. Zumeist auf ein inhaltliches Stichwort hin, aber wer hier nicht konzentriert bei der Sache bleibt, verliert womöglich den erzählerischen Zusammenhang. Eventuell geht auch etwas dramaturgische Spannung verloren.

Keine Frage, diese Frauen haben etwas zu erzählen, und es lohnt sich für nachfolgende Generationen zuzuhören. In Sachen filmischer Aufbereitung hat sich Regisseur Uli Gauke entschieden, die Lebensgeschichten jeweils mit Archivmaterial zu ergänzen und in loser chronologische Folge ineinander zu montieren. Das wirkt bisweilen etwas willkürlich und trägt die erzählerische Spannung nicht durch den ganzen Film. Einen Extrapunkt gibt es für die starken Ladies.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte
OT: Ihr Jahrhundert
Länge: 100 Minuten, D, 2024
Genre: Doku, Zeitgeschichte
Regie: Uli Gauke
Mitwirkende: Haydée Artaga Rojas, Nermin Abadan-Unat, Nanammal Amma, Ilse Helbich, Tamar Ershel
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Mindjazz Pictures
Kinostart: 07.03.2024

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