Willkommen auf Deutsch: Migrationsrealität 2015

Das Thema Migration bewegt die Gesellschaft aktuell wieder sehr. Zu wenig Unterkünfte, zu wenig Finanzmittel und viel zu viele Menschen, die in der EU und in der Bundesrepublik Deutschland eine Zukunft suchen. 2015 kam eine sehenswerte unaufgeregte Doku in die Kinos, die den Alltag mit der Asylangelegenheit beleuchtet. „Willkommen auf Deutsch“ besticht mit ruhigem Ton und umsichtigen Innenansichten. Seither hat sich die Gesamtsituation eher zugespitzt. „Migration und Asyl im #bildungsherbst bei brutstatt.de.

Just als „Willkommen auf Deutsch in die Kinos kommen sollte, legte der damalige Bundesinnenminister den aktuellen Migrationsbericht vor. Zeitgleich wird in Hamburg über jugendliche, kriminelle Asylbewerber diskutiert und während der Pegida-Demonstrationen zeigt ein Teil der deutschen Bevölkerung eine tiefsitzende Furcht vor dem Fremden. Daraus zog der gelungene Dokumentarfilm „Willkommen auf Deutsch“ vor acht Jahren eine gewissen Aktualität. Gleichzeitig wussten politisch Informierte bereits damals, dass die Themen Asyl und Zuwanderung eher zu den Dauerbrennern der deutschen Politik gehören. Den beiden Filmmachern Carsten Rau und Hauke Wendler gelingt es mit kleinteiliger Beobachtung im niedersächsischen Landkreis Harburg die „abstrakte“ Asylpolitik im Alltag anschaulich zu machen.

Der Fachbereichsleiter Soziales beim Landkreis Harburg, Reiner Kaminski, hat ein Problem: vom Bund bekommt der Kreis über die Landesregierung Asylbewerber zugeteilt. Die sollen untergebracht werden solange ihr Verfahren läuft. Die Möglichkeiten sind begrenzt, geeignete Unterkünfte schwer zu finden. Auch Hartmut Prahm hat ein Problem: In seinem Heimatdorf, dem 400 Seelen-Ort Appel, sollen 53 Asylbewerber untergebracht werden.

Willkommenskultur

Mitten im Dorfkern, in einem ehemaligen Altenheim. Nicht nur Prahm findet das Verhältnis nicht sozialverträglich. Und dann hat auch Larissa hat ein Problem: Die 21-jährige Asylbewerberin ist zwar in einer ehemaligen Sparkasse in Tespe untergebracht. Der Ort liegt ebenfalls im Landkreis Harburg. Als älteste Tochter einer fünfköpfigen Familie aus Tschetschenien sorgt sie für die Familie. Ihre Mutter liegt seit Wochen mit psychischen Problemen im Krankenhaus.

Der Dokumentarfilm „Willkommen auf Deutsch“ begleitet seine Protagonisten fast ein Jahr lang. Dabei entfaltet sich ein differenziertes Bild der Situation in der Asylpolitik. Häufiger fällt das Wort „Willkommenskultur“. Das Publikum kann nur ahnen, was sich dahinter verbirgt. Immerhin hat der Landkreis zusammen mit der Kirche in der Kreisstadt Winsen ein Flüchtlingscafé eingerichtet.

Die tschetschenische Familie in Tespe wird von einer engagierten Rentnerin unterstützt, die sowohl im Alltag als auch beim Deutsch Lernen hilft. Grundsätzlich scheint sich die Akzeptanz der Bevölkerung durch den Familien-Kontakt verbessert zu haben. In der Folge wird zusätzlich die untere Etage der ehemaligen Sparkasse für weitere Flüchtlinge umgebaut.

Antragsbearbeitung im Einreiseland

Anders die Situation in Appel. Die Zumutungen der Politik erzeugen Unmut. Der Sozialpolitiker Kaminski allerdings findet das ehemalige Altenheim als Flüchtlingsunterkunft geradezu prädestiniert. Vor allem weil bei Unterbringung von mehr als 30 Asylbewerbern auch eine entsprechende Betreuung abgestellt werden kann. Doch den Dorfbewohnern ist das zuviel und bekannte Ängste und Vorurteile treiben an die Oberfläche; es regt sich Wiederstand.

„Willkommen auf Deutsch“ sucht nicht nach Konflikten und Provokationen, viel eher zeigt die Doku Situationen so wie sie sich darstellen. Bei unterschiedlichen Befindlichkeiten blieben Reibungen nicht aus. Der Film nähert sich allen Beteiligten offen und lässt sie ihre Situation schildern.

So wächst auch Verständnis über die Ablehnung der Appeler, die sich bemühen eine alternative Unterkunft anzubieten, allerdings für deutlich weniger Flüchtlinge. Lokalpolitiker scheinen die undankbarste Aufgabe zu haben und ständig in der Konfliktzone zu stehen. Das Publikum sollte nicht vergessen, dass es in der Doku ja nicht um grundsätzliche Zuwanderung geht, sondern um Flüchtlinge. Der eingangs erwähnte Migrationsbericht im Jahr 2013 bestätigt 200 000 nach Deutschland gekommene Geflüchtete. Eine Anzahl, die ein Gemeinwesen von 80 Millionen verkraften sollte.

Wieviel ist zuviel?

Aber in der Doku „Willkommen auf Deutsch“ wird sichtbar, dass es in Sachen Asylpolitik an einigen Ecken und Kanten gehörig knirscht. Beispielsweise wird Larissa, weil erwachsen, angekündigt, dass sie nach geltendem Recht zur Bearbeitung ihres Antrages zurück nach Polen muss. Denn dort sei die Familie in die EU gekommen ist. Ihre Geschwister würden in Heime gesteckt, sollte die Mutter nicht in der Lage ist sich zu kümmern. Derlei Absurditäten werden von den lokalen Verantwortlichen bisweilen zum Wohle der Familie ausgesessen. Nach einer bestimmten Verweildauer wird die Regelung hinfällig.

Es scheint der Dialog zwischen der Politik und den Anwohnern von Flüchtlingsunterkünften grundsätzlich nicht immer zu funktionieren. Anders wäre das plakative Schreckgespenst von den 53 nicht ausgelasteten jungen Männern kaum zu erklären, mit dem die Bürgerinitiative gegen die Unterbringung Stimmung machen kann. Wäre man auf Seiten der Politik etwas sensibler gewesen bei der Umwidmung des Altenheims, hätte man eventuell schon einige Wogen glätten können.

„Willkommen auf Deutsch“ ist ein wichtiger und sehenswerter Beitrag zur aktuellen Diskussion um Asylrecht und Zuwanderung. Seine Stärke hat der Film in dem unaufgeregten Tonfall, in dem die Alltagsbeobachtungen dargestellt werden.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Willkommen auf Deutsch
OT: Willkommen auf Deutsch
Länge: 90 Minuten, D, 2015
Genre: Doku, Gesellschaft
Regie: Carsten Rau, Hauke Wendler
Mitwirkende: Reiner Kaminski, Harmut Prahm
FSK: ohne Altersbeschränkung, Ab 0 Jahren
Vertrieb: Pier 53, Indigo
Kinostart: 12.03.2015
DVD-VÖ: 27.11.2015