Die Wirklichkeit kommt: Eigenartiges Verhalten erkennen

Als ich „Something in the Dirt“ sah, fiel mit die 2014 erschienene Doku „Die Wirklichkeit kommt“ von Filmmacher Nils Bolbrinker ein. Darin arbeitet der Regisseur essayistisch auf, wie es mit den aktuellen Überwachungsmöglichkeiten bestellt ist und was das mit dem Individuum an sich macht. Nach der Covid19-Pandemie und den teilweise verschwurbelten Theorien dazubekommen die teilweise dystopischen Impressionen des Überwachungsapparates eine andere Bedeutungsebene. Auch das gilt als #PolitischeBildung.

„Nur weil du paranoid bist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“, so ein weit verbreiteter Sponti-Spruch, der das Grundproblem aber auf den Punkt bringt. 2014 zeigt „Die Wirklichkeit kommt“ von Nils Bolbringer, dass Orwells Vision „1984“ längst von der technischen und politischen Realität überholt wurde. Seinerzeit gab es weltweit einige Überwachungsskandale, die das zu unterfüttern schienen. Also macht sich der Dokumentarfilmer auf die Suche nach gehirnmanipuliernder Strahlung und dem Überwachungsapparat.

Die filmische Rundreise beginnt in der Ruine der ehemaligen US-amerikanischen Flugsicherungsanlage auf dem Teufelsberg in Berlin. Bolbrinker trifft dort einen Mann, der sich seit Jahren durch Strahlung manipuliert und gequält fühlt. Der Betroffene versucht sich dem weitgehend zu entziehen. Das klingt nach billiger Sci-Fi, erweist sich im aber weniger abwegig, als zunächst angenommen. Das Phänomen der Gedankenkontrolle, Beschäftigung mit unsichtbarer Strahlung und das dadurch verursachte Leid sind – zumindest für die Betroffenen -real.

„Das Wissen um soziale Interaktionen und Kommunikation ist natürlich ein Machtfaktor.“ (Wissenschaftlerin)


Zusammen mit einem Fotografen begibt sich der Regisseur auch in Archiven auf Spurensuche. Zum Beispiel nach dem mysteriösen Sendermann, der in den 1960ern mahnend durch Berlin zog. Auf Plakaten und mit dem Megafon warte er vor Strahlen und Kontrolle, auf Mauern prangten seine kryptischen Botschaften. Einige davon erscheinen heute, nach dem NSA-Skandal, in völlig anderem Licht. Zusätzlich trifft Bolbrinker Philosophen und Psychologen und weitere von Strahlung Betroffene. Wie die Frau, der man einen Chip einpflanzte, um sie jederzeit Orten zu können.


Allerdings ist Gedankenkontrolle kein exklusives Thema für Paranoiker, auch die Rüstungsindustrie erforscht das Thema seit Jahrzehnten. Erinnert sich jemand an die Satire „Männer, die auf Ziegen Starren?“. Ins Thema passen sowohl die geheimen LSD-Versuche der CIA als auch aktuelle Waffentechnik, die feindliche Streitkräfte mittels Strahlung kampfunfähig machen soll. Quasi als Anschauungstermin besucht Das Doku-Team eine internationale Rüstungsmesse in Kanada. Die Frage taucht auf, ob die Entwickler der Kämpf-Gerätschaften nicht ebenso ängstlich und wahnhaft sein könnten, wie eben die Leute, die vor solchen Entwicklungen warnen?

„Das Problem sind nicht die Waffen. Die Menschen sind das Problem.“ (Waffenproduzent)

Wie erschreckend und wie real müssen Bedrohungen empfunden werden, wenn sie derart aufwändig abgewendet werden müssen? Die Hirnforschung ist mittlerweile so weit entwickelt, dass neurologische Einflussnahme im Bereich des Möglichen liegt und in der Medizin zum Teil sogar Anwendung findet. Warum also nicht den nächsten Schritt einer kabellosen Gesellschaft denken, die ständig online ist?

Der filmische Essay von Nils Bolbrinker ist klug strukturiert und wirft einen nachdenklichen und unterhaltsamen Blick auf die verwirrende Thematik. Die Gedanken des Autors werden dabei von Sprecherin Patrycja Ziolkowska mit ruhiger und angenehmer Stimme vorgetragen. Das führt stimmig durch das Thema, hat aber beispielsweise nicht den überbordenden Charme von Lutz Dammbecks „Overgames“ . Dabei respektiert „Die Wirklichkeit kommt“ die Menschen, die er zeigt und ihre Probleme. Die Bilder, vermitteln Alltäglichkeit keine Übersteigerung. Gerade das aber wirkt beizeiten beklemmend.

„Die Wirklichkeit kommt“ ist trotz kurzer Spieldauer und solidem Filmaufbau vielleicht etwas zu langatmig. Das ändert allerdings nichts daran, dass der Film richtige und wichtige Fragen stellt. Die Gratwanderung zwischen Wahnsinn und Methode gelingt. Am Ende bleibt die Erkenntnis: „Nur weil du paranoid bist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Die Wirklichkeit kommt
OT: die Wirklichkeit kommt
Genre: Doku, Essay, Überwachung
Länge: 82 Minuten, D, 2014
Regie: Nils Bolbrinker
FSK: ab 0 Jahren, Ohne Altersbeschränkung (informationsprogramm)
Vertrieb: RealFiction films
Kinostart: 15.05.2014
DVD-VÖ: nicht bekannt

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