Das amerikanische Drama „Die Aussprache“ ist ein eigenwilliger Film; und das in mehrfacher Hinsicht. Es gibt einige Möglichkeiten sich dem Leinwandgeschehen inhaltlich zu nähern, und dennoch ist es vor allem eine große Kraft von „Die Aussprache“ überhaupt Gedanken anzuregen. Abgesehen von einem großartigen Ensemble, das für sich genommen den Eintritt wert ist – und einige Oscar-Nominierungen. Ab 9. Februar 2023 im Kino.
Die Orientierungspunkte in Raum und Zeit sind spärlich gesetzt. Die einführenden Bemerkungen kommen aus dem Off und werden von unterschiedlichen Frauenstimmen vorgetragen, während im Bild Schwangere und Gebärdende und Geschundene zu sehen sind.
Wie es sich darstellt, hat seit einiger Zeit eine Art von Übergriffigkeit durch die Männer in der Gemeinschaft stattgefunden. Frauen und Mädchen wurden betäubt und sexuell missbraucht; auch um weitere Gemeindemitglieder zu gebären. Die Frauen selbst haben bislang geglaubt, sich vieles von den Ereignissen eingebildet zu haben. Immer ging die Besitzergreifung auch mit einer Erinnerungslosigkeit einher. Doch die Folgen bleiben sichtbar.
Bis eine der Frauen einen Angreifer stellt und identifizieren kann. Nun ist das System der Betäubung und Vergewaltigung aufgedeckt und die Angreifer entpuppen sich nicht als Fremde, sondern als Nachbarn, Freunde, Ehemänner, Väter und Söhne. Doch in der Gemeinschaft haben Frauen keine Stimme und keine Rechte. Es wird von ihnen erwartet, dass sie den Angreifern vergeben, sobald diese aus der Stadt zurückkehren.
„Wir können nicht vergeben, nur weil wir dazu gezwungen werden.“
Doch so einfach ist die Angelegenheit nicht. Die Frauen beschließen auf dem Heuboden eine Versammlung abzuhalten und die Lage zu diskutieren. Anschließend soll abgestimmt werden, was zu tun ist: Nichts tun? Bleiben und Kämpfen? Gehen?
Ich komme nicht umhin „Die Aussprache“ auch persönlich zu nehmen. Als alter weißer Mann bin ich beschämt von der systemischen Übergriffigkeit der Gemeinschaft. Als moderner Städter bin ich irritiert von der Technikfeindlichkeit. Als nicht religiös organisierter, aber durchaus spiritueller Mensch verstört mich eine Philosophie, die den Menschen Unfreiheit und Leid auferlegt. All das prägt meine Sichtweise auf das Filmgeschehen ebenso wie bei jedem anderen Individuum, das „Die Aussprache“ ansieht.
Der erste Impuls ist insofern eine eher wütende Frage: Was gibt es da noch zu diskutieren? Doch genau da setzen die Frauen in „Die Aussprache“ an, es gibt immer unterschiedliche Aspekte eines Sachverhaltes. Es gilt immer abzuwägen zwischen „einem Spatz in der Hand“ oder „einer Taube auf dem Dach“. Das Bekannte bedeutet immer auch Sicherheit, das Unbekannte immer auch Gefahr. Und immer – gerade im Leben von Frauen – ist da auch die Verantwortung für die Kinder. Die Wette auf eine bessere Zukunft für den eigenen Nachwuchs.
Das alles hat sich wohl jede:r bisweilen schon einmal für sich selbst und seinen Lebensentwurf gefragt. In „Die Aussprache“ allerdings ist die Gemeinschaft der wunde Punkt des Lebensentwurfes. Mit den Verbrechen der Männer ist der Gesellschaftsvertag nichtig, den der gemeinsame Glaube unter den Bewohnern dieser Kolonie festgelegt hat. Und bereits darüber ließe sich trefflich streiten.
Nichts tun. Bleiben und kämpfen. Gehen.
Doch Regisseurin Sarah Polley, die auch das Drehbuch nach dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews adaptierte, legt ihre „Aussprache“ als Parabel an. Als beispielhafte Situation, in der es auch darum geht philosophische Grundlagen und Strömungen auszuloten, ohne dabei theorielastig zu werden.
Die Frauen haben ganz grundlegende Bedürfnisse und ganz archaische Probleme. Das Leiden ist kein Übersinnliches, es ist ein konkretes, körperliches. Und es geht auch darum, wie frau mit den Tätern umgeht. Darüber herrscht große Uneinigkeit und die unterschiedlichen Standpunkte scheinen unvereinbar.
So beschränkt sich der Heuboden-Palaver schnell auf zwei Familien, weil die dritte hartleibig den gottgegebenen Status Quo einfordert – egal was war, egal was kommt. Unter den Frauen und Mädchen der verbleibenden Familien gibt es ebenfalls unterschiedliche Standpunkte und Meinungen, jenseits von Familienzugehörigkeit, aber eher verknüpft mit dem selbst erlittenen Schmerz.
Etiketten helfen nicht weiter, Floskeln auch nicht
Ob das Publikum der „Aussprache“ etwas abgewinnen kann, mag eng damit zusammenhängen, ob die Prämisse der Geschichte akzeptiert wird. Das räumlich und zeitlich diffuse Setting lässt sich auf einen realen Vorfall zurückführen, der auch den Roman inspiriert hat. Das sorgt dafür, dass der Verleih „Nach wahren Begebenheiten“ aufs Plakat drucken kann. Hilfreich ist das nicht, denn die Missbrauche sind derart verachtenswert, dass sich der gerechte Zorn schnell an „sektenartigen Religionsgemeinschaften“ entzünden könnte. Doch davon ist der Film (wie das Buch) weit entfernt, will etwas vollkommen anderes.
So weit, dass es bisweilen wirkt als würde hier eine Parallelwelt zu „The Handmaids Tale“ nach Margret Atwoods Dystopie vorgeführt. Und in seiner abstrakten Art und Weise, in seiner theaterbühnenhaften Gesprächskultur, die ganz und gar nicht leinwandtauglich scheint, und es doch immer wieder ist, führt „Die Aussprache“ eine Entscheidungsfindung durch, die ebenso grundlegend wie emanzipiert ist. Eine Lektion in Basisdemokratie, in Widerstand, Zivilcourage und Selbstermächtigung. Wobei sich schon die Frage stellt, warum das 2023 in der westlichen Welt respektive den USA immer noch und immer wieder ein Thema sein muss?
Eine amerikanische Filmkritik fand in „Die Aussprache“ „Anlass zu Hoffnung und Zuversicht“. Ich finde davon wenig, abgesehen vom Sinnspruch der Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Ist das schon Hoffnung? Viel eher stellt sich mir immer wieder die Fragen, wie konnte es überhaupt soweit kommen und wie gebietet eine Gemeinschaft den Gräueln Einhalt? Eventuell zeigt sich daran, ob das Glas halb voll oder halb leer empfunden wird.
Film-Wertung: (8 / 10)
Die Aussprache
OT: Women Talking
Genre: Drama,
Länge: 104 Minuten, USA/UK, 2022
Regie: Sarah Polley
Vorlage: Gleichnamiger Roman von Miriam Toews
Darstellerinnen: Rooney Mara, Jessie Buckley, Claire Foy
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Universal
Kinostart: 09.02.2023