Arbeitet nie! – Der Echoraum der Edition Nautilus

Hanna Mittelstädt sagt in einem Interview, der Titel „Arbeitet nie!“ sei ihr lustig vorgekommen, weil das Plakat mit der Parole über ihrem Arbeitsplatz im Verlag der Edition Nautilus hing, wo sie jahrzehntelang als Mit-Verlegerin quasi nichts anders tat als Arbeiten. Die Parole ließe sich aber auch anders verstehen, als Aufruf zu einer anderen Form von Leben. Einem Leben, das nicht unterscheidet zwischen Arbeit und Freizeit, sondern Zufriedenheit und kreative Produktivität anstrebt. So wie Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg in der Edition Nautilus „Die Erfindung eines anderen Lebens“ angestrebt haben.

Es gibt so viele Möglichkeiten sich diesem hinreißenden und lesenswerten Buch zu nähern. „Arbeitet nie!“ ist so etwas wie die inoffizielle Chronik der ersten vier Jahrzehnte der Edition Nautilus. „Arbeitet nie!“ ist eine Doppelbiografie über die Verleger Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt. „Arbeitet nie!“ ist ein Zeitzeugnis über vier Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte. Gesehen, bezeugt und gelebt am linken Rand der Gesellschaft. Und „Arbeitet nie!“ ist auch ein Buch über Abschiede und Trennungen, auch wenn das so ausgesprochen selten zu Tage tritt.

„Mit der Angst kann man Politik machen, aber nicht die Geschichte in Bewegung setzten. (Subrealisten Bewegung, 1980)

Ich hörte neulich eine Podcast-Rezension über „Arbeitet nie!“ in der der Rezensent auch ein Weggefährte aus der Verlagswelt war. Er habe das Buch begeistert so weggelesen. Etwas, was mir, glücklicherweise, nicht gelungen ist. Stattdessen ist der Text so verschlungen, mäandernd, assoziativ, dass er zur Abschweifung nahezu einlädt. So viele Namen, so viele Bücher und Texte, so viele Projekte und Anekdoten, so viele Orte in Hamburg, Kiel und Frankreich. Bisweilen fluche ich, weil meine halbe Bibliothek aus Platzgründen eingelagert ist.

Jetzt wäre der Moment um Frank Witzels Roman „Bluemoon Baby“ aus dem Regal zu ziehen, den ich Anfang der 2000 zufällig gebraucht erstanden habe und der mich ob seines Witzes umgehauen hat. Jetzt wäre der Moment, um in Abel Paz „Durutti“ Biografie zu blättern, hinter der ich als junger Student Jahrelang hergestöbert habe, bis sie endlich neu aufgelegt wurde.

Und dann wieder finde ich mich zu Filmvorführungen im Abaton-Kino ein, in dessen Keller seinerzeit linkspolitische Schriften umgeschlagen wurden. Oder aber mir fällt – bei Hanna Mittelstädts Aufenthalt in Venedig während der Covid-19 Pandemie – wieder diese entrückte, verlassene Doku „Moleküle der Erinnerung“ ein, die entstand, weil der Filmmacher in Pandemiezeiten in Venedig festsaß.

„Es ist nie einfach da durchzukommen. Aber schließlich sind wir Kämpfer und keine Puristen…“(Lutz Schulenburg)

Unmöglich und auch widersinnig über diese Gedanken hinwegzulesen. Schließlich geschieht es nicht oft, dass sich der Lesende wiederfindet auf einem Lebensweg, der ihn nachhaltig beeinflusst hat. Das ist anders als eine Musikerbiografie einer geschätzten Künstlerin. Dies hier ist und wird immer bleiben auch solidarischer Diskursraum, Inspirationsquelle, Sehnsuchtsort. Ja, Utopie, auch wenn Lutz Schulenburg wie hier nachzulesen, dem Begriff eher skeptisch gegenüberstand.

Definitiv bin ich zu jung, um die Anfänge des MaD-Verlages, der später zur Edition Nautilus wurde, miterlebt zu haben. Daher hat die Edition vieles erleichtert, denn die Texte, die Mittelstädt, Schulenberg und der dritte im Bunde, Pierre Gallissaires, lesen wollten, die großteils auch ich lesen wollte, die zur verlegerischen Tätigkeit gedrängt haben, waren nun schon schon da. Herausgegeben in der Edition Nautilus. Künstlerisch, subversiv, anarchisch, anarchistisch.

Bei brutstatt.de habe ich über die Jahre immer mal wieder Titel aus der Edition Nautilus vorgestellt. Es hätten mehr ein sollen, es fehlte schlicht die Zeit. Gleichwohl hat sich das Verlagsprogramm und auch die verlegerische Ausrichtung geändert, seit Lutz Schulenburg 2013 verstarb und sich Hanna Mittelstädt seither aus dem Verlag zurückgezogen hat, den sie 2016 in eine GmbH aus Mitarbeitern übergeben hat.

Wie zieht mensch sich zurück aus einer Lebensaufgabe? Davon erzählt „Arbeite nie!“ wenig. Erwähnt allenfalls gegen Ende, dass auch Trennung erst geübt werden muss. Wie vieles in diesem im besten Emma Goldman-schen Sinne „Gelebten Leben“ erst erlernt und ausprobiert werden wollte. Das ist ebenso mutig wie idealistisch und wohl ebenso sehr Direkte Aktion wie dadaistisches Momentum und situationistische Maxime. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen aus einer neuen Freiheit auf das Vergangenen geschaut wird.

„Die Zeit gehört denen, die nicht lockerlassen.“ (Unsichtbares Komitee, 2017)

An „Arbeitet nie!“ stimmt alles, bis hin zum eigenwilligen Layout und zum Einband aus Archivcarton, der ebenso aus der Zeit gefallen ist wie es eine Hommage an die Veröffentlichungen der linken Verlage in der Anfangszeit der Edition Nautilus ist. Hanna Mittelstädts Buch erzählt nicht chronologisch, sondern in assoziativen Momenten und hangelt sich dabei entlang an der Chronologie des Verlags.

Immer wieder werden Korrespondenzen eingefügt, immer wieder werden Zitate aus verlegten Schriften herangezogen. Kapitel im herkömmlichen Sinne gibt es ebenso wenig wie lesefreundliche kurze Absätze oder ein luftiges Layout. Stattdessen 360 ausgereizte Seiten. Erinnerungen und Begegnungen, Verlag und Leben und Verlagsleben, ergänzt um ein nach Lesebrille schreiendes Verzeichnis der Bücher, die zu Lebzeiten Lutz Schulenburgs veröffentlicht wurden.

„Arbeitet nie!“ ist auch das Zeugnis eines Gesamtkonzepts, das eine solche Seltenheit ist. Zwei Existenzen in einer Idee von Leben und Lernen und Sein. Anders sein und in der Wohnung in der Beziehung den Verlag machen, auch aus dem Antrieb etwas verändern zu wollen. Vieles davon scheint aus der Zeit gefallen, ist zumindest aus einem anderen Zeitgeist heraus wagemutig und scheint heute viel zu oft zu fehlen. Was soll ich sagen, außer: Danke? Vielleicht: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.

Hanna Mittelstädt: Arbeitet nie! – Die Erfindung eines anderen Lebens
Chronik eines Verlags
Genre: Biographie, Sachbuch, Verlagswesen, Literatur
Autorin: Hanna Mittelstädt
Länge: 360 Seiten
Format: Broschur aus Archivcarton,
ISBN: 978-3-96054-317-6
Verlag: Edition Nautilus
VÖ: 06.03.2023

Copyright Buchcover @JMMP, Copyright Porträt@ Anne Vaupel

Arbeite Nie bei Edition Nautilus

Hanna Mittelstädt auf Lesereise ab April 2023

HAMBURG
SONNTAG, 2. APRIL, 18 UHR
Lesung und Diskussion
Veranstaltungsort: HafenVoKü, St. Pauli Hafenstraße 116
Eintritt frei

BERLIN
DIENSTAG, 4. APRIL, 19 UHR
Lesung und Gespräch
Moderation: Jörg Sundermeier
Veranstaltungsort: Fahimi Bar, Skalitzer Straße 133
Eintritt: € 6,- (im Vorverkauf), € 8,- (Abendkasse)

BERLIN
MITTWOCH, 5. APRIL, 19.30 UHR
Lesung und Gespräch
Moderation: Jakob Hayner
Veranstaltungsort: Schankwirtschaft Laidak, Boddinstr. 42/43

DÜSSELDORF
DONNERSTAG, 20. APRIL, 19.30 UHR
Buchvorstellung
Veranstaltungsort: BiBaBuZe Buchhandlung, Aachener Straße 1
Weitere Informationen demnächst

RIEHEN (SCHWEIZ)
DIENSTAG, 9. MAI, 20 UHR
Lesung und Gespräch
Moderation: Wolfgang Bortlik
Veranstaltungsort: Kellertheater im Haus der Vereine, Baselstrasse 43
Eine Veranstaltung der Arena Literatur-Initiative Riehen

ZÜRICH
DONNERSTAG, 11. MAI, 19.30
Lesung und Gespräch
Moderation: Merièm Strupler
Veranstaltungsort: Paranoia City Buchhandlung, Ankerstrasse 12
Eintritt gegen Spende

BASEL
FREITAG, 12. MAI, 20 UHR
Lesung und Gespräch
Veranstaltungsort: Restaurant Hirscheneck, Lindenberg 23
Eintritt gegen Spende

AARAU (SCHWEIZ)
SAMSTAG, 13. MAI, 18 UHR
Lesung und Gespräch
Moderation: Peter Kuntner
Veranstaltungsort: Restaurant Speck, Zollrain, CH – 5000 Aarau
Eintritt frei, Spende erwünscht

SASSNITZ (RÜGEN)
SAMSTAG, 10. JUNI, 19 UHR
Lesung und Gespräch
Veranstaltungsort: Dahlmanns Bazar, Am Alten Markt, Uferstraße 1
In der Reihe »Kreuzfahrten des Geistes«

FREIBURG
MITTWOCH, 25. OKTOBER, UHRZEIT FOLGT
Lesung und Gespräch
Veranstaltungsort: jos fritz Buchhandlung, Wilhelmstraße 15
Weitere Informationen demnächst