Seaside Special: Alles wird gut

In den britischen Seebädern gehörten volkstümliche Varieté-Shows lange Zeit zur sommerlichen Urlaubsunterhaltung dazu. Davon ist nicht mehr viel übriggeblieben. Die Doku „Seaside Special“ des deutschen Filmmachers Jens Meurer porträtiert die letzte verbliebene „End-of-Pier-Show“ Englands in dem beschaulichen Örtchen Cromer. Dabei wirft die Doku auch einen Blick auf die Gemütslage angesichts des bevorstehenden Bexits. Im Kino ab 19. Januar 2023.

Die Küstenstadt Cromer in Norfolk hat gerade einmal 7500 Einwohner, doch als Seebad und sommerlicher Urlaubsort ist Cromer seit Mitte des 19.Jahrhunders bekannt und beliebt. Aktuell – beziehungsweise 2018 bis 2019, zu Zeiten der Dreharbeiten von „Seaside Special“ – verfügt Cromer noch über eine einzigartige Attraktion. Ein Seaside Special.

Als Seebad hat Cromer einen Pier, an dessen Ende ein Pavillion steht, auf deutsch würde man wohl Seebrücke dazu sagen, und die Ostseebäder in Ostdeutschland haben auch ein entsprechendes Bauwerk. In Großbritannien allerdings sind die Gebäude am Ende des Piers schon immer zur volkstümlichen Unterhaltung dagewesen. Kein Wunder also, das in dem Pavillon ein Theater beheimatet ist.

Cromers zwei Attraktionen: Die fangfrische Krabbe und die Show am Ende des Piers

In Jedem Sommer wird dort eine Show zusammengestellt, die über drei Monate mehrmals täglich gezeigt wird. Seit der irische Impressario Richard Condon 1975 die Seaside Special genannte Show in Cromer produzierte, erfreut sich das Format großer Popularität. Dabei werden die Show-Nummern ausschließlich von „Amateuren“ dargeboten. Viele der Darsteller leben allerdings von dieser Art von Engagement und haben sich ihrer Berufung verschrieben.

Regisseur Jens Meurer kennt Cromer und das Seaside Special seit er in eine englische Familie eingeheiratet hat. Seit Ewigkeiten war die Idee da, einen Film darüber zu machen doch erst der bevorstehende Brexit gab einen angemessenen Anlass für diese Doku.

Insofern ist der Austritt Großbritanniens aus der EU ein alles beherrschendes Thema im Film, aber eines das eher im Hintergrund präsent ist. Schließlich müssen die Einwohner Cromers ja noch miteinander klarkommen, selbst wenn sie in der Brexitfrage unterschiedlicher Meinung sind. So beobachtet Jens Meurer nicht nur die Bühnenkünstler sondern auch einige Einwohner der Stadt, wie den konservativen Krabbenfischer und die Tanzlehrerin, deren Zwillingstöchter mit dem familieneigenen Wohnmobil auf eine „Fuck Brexit“-Europatour gehen wollen. Allerdings ist der Motor defekt.

Man merkt dem Film seine Liebe zu den Menschen an und auch die Liebe zum handgemachten Varieté. Es gibt dabei durchaus Blicke hinter die Kulissen und die Tabus einer solch populären Show, die vor allem eins will: Unterhalten. Da sind Witze über den Brexit nicht angesagt. Jedenfalls keine, die Partei für eine Seite ergreifen, wohl aber solche über die Absurditäten der Politik an sich.

Keine Witze über dem Brexit

Und so entsteht ein Blick auf eine kleine Gemeinschaft, die ein perfektes Abbild der britischen Gesellschaft zu sein scheint. Mit all ihren Widersprüchen, ihren verregneten Sommern und den vielen, anstehenden Wahlen und Abstimmungen in der Zeit, in der das Filmteam vor Ort war. Gedreht wurde auf nostalgischem 16mm-Film, der für die Kinovorführung auf 35mm-Film überspielt wurde.

Selbstverständlich wirkt sich das analoge Filmmaterial auch auf die Qualität der Bilder aus und untermalt kongenial die Vergänglichkeit dieser Art von Unterhaltung, die eine Seaside Special Show bietet. Dafür hätte es keine Covid19-Pandemie gebraucht, die den Briten (und der Welt) eine weitere Belastung aufbürdet. Es ist weniger Nostalgie, die „Seaside Special“ so charmant macht als vielmehr die Herzlichkeit und die Menschlichkeit, die der Film vermittelt.

„Seaside Special“ ist nahe dran an den Akteuren der Cromer Pier Show und an den Einwohnern dieses beschaulichen Städtchens an der Küste Norforks. Die offenkundige Sympathie für Ort und Bewohner sorgt für unverfälschte Einblicke in englische Befindlichkeiten angesichts des Brexit und in eine hinreißend proletarische Form der Unterhaltung. Leider sind die „Seaside Specials“ aus der Mode gekommen, aber wie der Conferencier im Film vorschlägt: Sollten Sie jemals Gelegenheit haben, eine End of Pier Show zu sehen, egal wo auf der Welt, gehen Sie hin!“

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Seaside Special – Ein Liebesbrief an Großbritannien
Genre: Doku,
Länge: 93 Minuten, D/B, 2021
Regie: Jens Meurer
FSK: ohne Altersbeschränkung, Ab 0 Jahren
Vertrieb: Instant Film, Farbfilm
Kinostart: 19.01.2023