Helden der Wahrscheinlichkeit: Die Zahlen lügen nicht!

Die schwarzhumorige dänische Tragikomödie „Helden der Wahrscheinlichkeit“ bietet einen höchst eigenwilligen Zugang zu Rache, Trauer und Statistik. Vor allem aber ist der neue Film von Anders Thomas Jensen wieder eine furiose Ensembleleistung, bei der es fast egal wäre, worum es geht, wäre das Thema nicht so tragisch. Wie umgehen mit tödlichen Unfällen? Neue Visionen und Splendid Filmverleih veröffentlichen „Helden der Wahrscheinlichkeit“ nun auf DVD und Blu-ray für das klassische Home-Entertainment.

Der dänische Soldat Markus (Mads Mikkelsen) hat gerade seinen Afghanistan-Einsatz verlängert als die U-Bahn mit seiner Frau und seiner Tochter Mathilde (Andrea Heick Gadeberg) einen explosiven Unfall hat. Markus Frau stirbt.

Der Mathematiker Otto (Nikolaj Lie Kaas „Erbarmen“) befand sich in derselben U-Bahn, überlebt aber. Otto hat zwar gerade seinen Job verloren, ist sich aber sicher die Explosion war kein Unfall, denn in der Bahn befand sich der Kronzeuge in einem Rockerprozess und Otto hat Verdächtiges beobachtet.

Weil die Polizei nicht zuhört, forschen Otto und seine ebenfalls arbeitslosen Kollegen Lennart (Lars Brygmann) und Emmenthaler (Nicolas Bro, „Antboy“) auf eigene Faust und erzählen Markus von ihrer Version. Der kampferprobte Veteran beschließt daraufhin, die Rockergang, die „Riders of Justice“ zur Vergeltung heranzuziehen. Die Mathematiker schließen sich an.

Markus Tochter Mathilde hat derweil ganz andere Probleme und würde den Verlust ihrer Mutter und die ruppige Verschlossenheit ihres Vaters gerne mit psychologischer Betreuung aufarbeiten. Da macht Markus die drei Statistiker kurzerhand zu Psychologen.

„Ich denke das fast tausend Therapiestunden mich durchaus als Psychologen befähigen.“ (Lennart)

In „Helden der Wahrscheinlichkeit“ beginnt alles ganz harmlos mit der dem Weihnachtswunsche eines estnischen Mädchens nach einem blauen Fahrrad. In der nächsten Szene wird in Dänemark ein solches gestohlen. Wie sich herausstellt eben jenes, dass Mathilde eigentlich zur Schule bringen sollte. Der Anruf von Markus, dass er länger im Kampfeinsatz bleibt führt dann dazu, dass Mutter und Tochter sich einen schönen Tag gönnen, an dessen Ende die tödliche Kollision der U-Bahn steht.

Für die einen ist das alles tragischer Zufall, wenn es denn überhaupt einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen ist. Für die anderen, und dazu gehört auch Otto, kann eine Kette von Ereignissen durchaus zusammenhängen. Dieser „Schmetterlingseffekt“ eine statische Wahrscheinlichkeit darstellt und insofern mathematisch berechenbar sein muss.

„Schmetterlingseffekt“ ist ein Phänomen aus der nichtlinearen Dynamik komplexer, deterministischer Systeme, weiß Wikipedia. Es lässt sich eben nicht voraussagen lässt wie bestimmte Änderungen sich langfristig auswirken. Otto hat sein ganzes Leben darüber gearbeitet. Doch im Grunde ist das nur der Handlungsrahmen für die „Helden der Wahrscheinlichkeit“.

Finger weg von den Kabeln!“ (Emmenthaler)

Letztlich zeigt Anders Thomas Jensens Tragikomödie vor allem unterschiedliche Zustände von Trauerarbeit, Rachegelüsten, Umgang mit Schuldgefühlen und aktive Traumatherapie. Das alles ist wie so oft in den Regiearbeiten von Anders Tomas Jensen in bizarre Wahlverwandschaften und abstruse Männerfreundschaften gepackt. Wie etwa auch in „Men & Chicken“ oder „Adams Äpfel“.

Diese vielschichtige, schwarzhumorige und sehr eigenwillige Sicht auf das Leben, die sich in Jensens Regiearbeiten zeigt, funktioniert für mich auf emotionaler und rationaler Ebene quasi auf Knopfdruck. Es ist nachvollziehbar, wenn das nicht allen Zuschauern gleichermaßen so zugänglich ist und gefällt. Es braucht immer für diese Sorte Film immer auch einen überkandidelten Irrsinn, der droht einem gerne mal im Hals stecken zu bleiben. Das ist schon speziell.

Und dennoch ist „Helden der Wahrscheinlichkeit“ nachgerade sehenswert. Das liegt an zwei grundsätzlichen Aspekten dieses Films und daran, dass die Charaktere und die abstrusen Wendungen der Handlung sich auf komplexe und stets überraschende Weise zu einem funktionierenden, lebendigen Ganzen fügen und die Komik immer wieder den Rahmen sprengt. Dabei sind Explosionen in U-Bahnen und Kampfeinsätze im Ausland, Gewalt von Rockerbanden und Arbeitslosigkeit hochpolitische aktuelle Themen, nur anders verpackt.

Es ist eine große Qualität, dass dem Rachefeldzug des Witwers und dieser Nerds eine Wahrhaftigkeit zugrunde liegt. Die es den angeschlagenen und abgehalfterten Existenzen ermöglicht, sich rührend und fürsorglich um die Teenager-Tochter zu kümmern.

Was „Helden der Wahrscheinlichkeit“ grundsätzlich ausmacht ist zum einen die literarische Qualität der Drehbücher von Anders Thomas Jensen, der einer der gefragtesten und erfolgreichsten dänischen Autoren ist. Die Story des dänischen Oscar-Gewinners „In einer besseren Welt“ stammt ebenso von Jensen wie das Drama „Brothers“ nach den dänischen Original und das Script zu dem Geisel-Drama „398 Tage“. Zum anderen sind da die dänischen Schauspieler, die das Publikum bereits durch und durch zu kennen glaubt, weil es scheinbar immer dieselben Gesichter sind, die neben Superstar Mads Mikkelsen („Die Jagd“) zu sehen sind.

Das stimmt zwar nicht ganz, aber für das Regiewerk von Jensen von „Blinkende Lichter“ (2000), über „Dänische Delikatessen“ (2003) bis hin zu „Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist die darstellerische Rumpftruppe ziemlich konstant und zeigt in der vertrauten Drehumgebung immer wieder vielschichtige und facettenreiche Charaktere. Mir reicht es gelegentlich zuzusehen, wenn Otto und Markus sich in der Scheune anschweigen. Aber das gilt sicher nicht für alle Zuschauer:innen.

Mit „Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist Anders Thomas Jensen und seinem großartigen Ensemble eine Perle modernen dänischen Filmschaffens gelungen. Seit „Adams Äpfel“ war Trauma-Therapie nicht mehr so unterhaltsam.

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Helden der Wahrscheinlichkeit
OT: Retfærdighedens ryttere aka Riders of Justice
Genre: Drama, Komödie
Länge: 116 Minuten, DK, 2020
Regie: Anders Thomas Jensen
Darsteller: Mads Mikkelsen, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygmann, Nicolas Bro, Nikolaj Lei Kaas
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Neue Visionen, Splendid Filmverleih
Kinostart: 23.09.2021
DVD- & BD-VÖ: 21.01.2022

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