Was Musikfilme anbelangt, war 2010 ein guter Jahrgang, kein überragender. Doch es gab eine Vielzahl ungewöhnlicher Musikfilme, die Spaß machten, belehrten und einfach die Neugier weckten, auf musikalische Entdeckungsreise zu gehen. Dabei stand das Jahr im Zeichen der Pop-Ikone John Lennon, dessen Todestag sich 2010 zum 30. mal jährte.
Dem Beatle wurde mit „Nowhere Boy“ ein filmisches Denkmal gesetzt, das seine frühen Jahre betrachtet, es gab unzählige Beatles- und Lennon-Dokumentationen im Fernsehen, sogar als Schauspieler wurde Lennon in „Wie ich den Krieg gewann“ (1967) noch einmal ausgestrahlt. Dabei wurden allein im vergangenen Jahr ein Dutzend Dokumentationen zum Thema Lennon gedreht, die hierzulande überhaupt nicht veröffentlicht wurden. Immerhin drei Lennon-Neuerscheinungen hat es bei uns zum Todestag dann doch gegeben: Den Spielfilm „Chapter 27“ (2007) über die Ermordung Lennons und die Dokumentationen „Die Akte USA gegen John Lennon“ (2006) und „LennonNYC“.
Aber was wird an dieser Stelle überhaupt als Musikfilm erachtet? Eigentlich alles, was sich um das Thema Musik dreht, egal, ob TV oder Kino, egal, ob Doku über Musiker und Musikstile, Spielfilme über Sänger und Bands, gesellschaftliche Entwicklungen, die eng mit Musik verbunden sind, ebenso wie wissenschaftliche Annäherung an das Phänomen Musik. Nur Konzertmitschnitte, die wirklich nichts anders zeigen als das Geschehen auf der Bühne und im Publikum, fallen total aus. Scorceses „Shine a Light“ (2007) ist da ein Grenzgänger, denn im Grunde zeigt der Regisseur nur den Auftritt der Rolling Stones, allerdings mit einem dokumentarischen Vorspann, wie der Film überhaupt entstehen konnte.
Oscar-Prämiertes Musik-Drama ist kein Top 5 Anwärter
Das Jahr begann mit Country-Musik, besser: mit Bad Blake, dem fiktiven, abgetakelten Country-Star, der Jeff Bridges den längst fälligen Oscar als bester Darsteller einbrachte. Filmisch ist „Crazy Heart“ kein Erkenntnisgewinn, sondern ein relativ normales, großartig gespieltes Loser-Portrait. Auch „Nowhere Boy“ bewegt sich in gewohnten Bahnen des Mainstream-Kinos. Gleiches gilt auch für „The Runaways“, die gespielte Filmbiografie der Girlband aus den Siebzigern. Mitreißender ist da schon der französische Publikumserfolg „Das Konzert“ausgefallen: Die Story über ein russisches Orchester, das sich die Chance auf ein Comeback erschleicht, findet eine unterhaltsame Mischung aus Witz, Schönheit und Traurigkeit.
Richtig herausragend war der Musikfilm 2010, wenn es ans Dokumentarische ging. Nicht immer allzu ernst, selten neutral begleitend und mitunter durchaus kontrovers, sowohl in filmischer als auch in inhaltlicher Sicht. Bestor Cram bringt mit „Johhny Cash at Folsom Prison“ sogar das erstaunliche und gelungene Kunststück fertig, trotz zweier extremer Handycaps eine Dokumentation über Johnny Cashs legendären Auftritt zu drehen: Es gibt kein Filmmaterial davon und Cash war zum Zeitpunkt des Drehs (2008) schon seit Jahren tot.
Insofern ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass es in die Top 5 Musikfilme nur Dokumentationen geschafft haben. Die aber haben es in sich und unterhalten mindestens so gut wie ein gelungener Spielfilm. Genug Spannung aufgebaut? Dann Vorhang auf, für mein persönliches Steckenpferd, meine Lieblingskategorie, meine filmische Leidenschaft: Hier sind die
Top 5: Musikfilme 2010
5. „Until The Light Takes Us“
Die norwegische Black Metal Szene macht Anfang der 90er Jahre unrühmliche Schlagzeilen: Kirchenverbrennungen, Morde und abstruses, faschistoides Gedankengut wirbelten das extreme Musikgenre gehörig auf. Die amerikanischen Filmemacher Aiters und Ewell begeben sich auf die Spuren der Geschehnisse und zeigen, was aus den Protagonisten der damaligen Szene geworden ist. Die Doku ist thematisch nichts für schwache Nerven und zu Recht ohne Jugendfreigabe, aber mehr als sehenswert, gerade weil sie nicht kommentiert, wie sich die Black Metaller selbst darstellen. „Until the Light Takes Us“ ist ein absurd morbider Film.
Film-Wertung: (8 / 10)
4.„Pianomania“
Die Dokumtarfilmer Lilian Franck und Robert Cibis zeigen einen der weltbesten Klavierstimmer, Stephan Knüpfer, bei der Arbeit. Im alltäglichen, musikalischen Wahnsinn zwischen Starpianisten und „Tönen, die nicht atmen“ entspinnt sich ein ganz eigener Blick auf die Welt der klassischen Musik. Auf der Suche nach dem perfekten Klang geht es durchaus (auch ungewollt) witzig zu, immer aber hochgradig unterhaltsam. „Pianomania“ begeisterte Kritiker wie Publikum gleichermaßen und wird im April 2011 für den Hausgebrauch veröffentlicht. Hoffentlich hält das Soundsystem dem perfekten Klang stand. Großes Kino. Hier geht’s zur Film-Rezension.
Film-Wertung: (9 / 10)
3. „The Doors – When You’re Strange“
Ein Doors-Fan war ich noch nie, ein DiCillo-Fan hingegen schon lange und „When You’re Strange“ ändert daran auch nichts. Regisseur Tom DiCillo („Living in Oblivion“, „Double Whammy“) gelingt es tatsächlich, dem Pop-Phänomen The Doors neue Facetten abzugewinnen. Der Film ist ausschließlich mit Archivmaterial gedreht und holt Jim Morrison und seine drei Mitstreiter wieder auf die große Bühne. Faszinierend und hochspannend verfolgt die Dokumentation dabei die (eigentlich zur genüge bekannte) Karriere der Doors. Johnny Depp als Erzählstimme passt zum Film wie die Faust aufs Auge. Die deutsche Fassung wird von Depps Synchronstimme David Nathan gesprochen. Das ist nicht nur für Doors-Fans ein Pflichttermin.
Film-Wertung: (8 / 10)
2. „All Tomorrow’s Parties“
Ein Film über ein Musikfestival kann sehenswert sein, muss aber nicht. Die auf Arte ausgestrahlten Beiträge zum Szigent-Festival und über Roskilde waren recht normale Konzert-Kost. Julian Temple hat mit seiner „Glastonbury“-Doku (2006) bewiesen, dass man mehr auf Film bannen kann, als nur die Stimmung. Jonathan Caouette gelingt mit „All Tomorrow’s Parties“ ein geistesverwandtes Kunststück. Das ATP-Festival funktioniert nach einem ganz eigenen Konzept: Jedes Jahr wird ein Künstler Kurator des Events und stellt – frei von kommerziellen Gesichtspunkten – sein Programm zusammen. Es ist das Happening das zählt und das Publikum lasst sich bereitwillig in den jeweilige Musikkosmos des Kurators hineinsaugen. Der Film zum 10. Jubiläum des ATP spiegelt das. Folgerichtig gibt Jonathan Caouette auch jegliche Regie-Kredits an die ATP-Fans weiter, die einen Großteil der Aufnahmen gemacht haben. Ein toller Film: Mitreißend, wuchtig, experimentell, überschäumend und schlicht schön. Hier gehts zur ausfühlichen Filmvorstellung ATP-Doku.
Film-Wertung: (9 / 10)
1. „Anvil – Geschichte einer Freundschaft“
Was tun, wenn der Traum, Rockstar zu werden, verpufft ist? So geschehen bei der kanadischen Heavy Metal-Band Anvil, die vielen als maßgeblicher Wegbereiter Anfang der 80er galt. Aber die Jugendfreunde Rob Reiner und Lips Kudlow sind immer noch Metalheads! Anvil besteht immer noch, neben schlecht bezahlten Jobs und Reihenhaus-Alltag. Die inzwischen Fünfzigjährigen sind Musiker mit Leib und Seele und einfach nicht kaputt zu kriegen.
Die Band geht auf eine Europa-Tour, die ein komplettes Desaster ist und ein Lehrstück, was alles schief gehen kann, wenn man als Musiker unterwegs ist. Sasha Gervasis Dokumentation „Anvil – Geschichte einer Freundschaft“macht keinen Hehl aus der Sympathie für die Band und sorgte damit tatsächlich für einen Karriere-Kick! Ein ebenso erschütternder wie mitreißender Film, ein Zeugnis wahrer Liebe zur Musik. Und ja, einer der besten Rock’n’Roll-Filme überhaupt. Hier geht’s zur ausführlichen Filmbesprechung.
„That’s dedication, pal!“ (Lips).
Film-Wertung: (9 / 10)
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