Für eine unbedarfte Leserschaft mag es seltsam erscheinen zwei in sich abgeschlossene Comic-Geschichten, die titelmäßig so gar nichts miteinander gemeinsam haben, in einer Gesamtausgabe zu vereinen. Allerdings ist in der hervorragend editierten und mit zahlreichem Zusatzmaterial versehenen Hardcove-Edition das gemeinsame Schaffen von Autor Van Hemme und Zeichner Dany vereint. Der stilsichere Comic-Verlag Schreiber & Leser macht den Klassiker der Franko-Belgischen Comic-Historie im April 2024 auch hierzulande wieder zugänglich.
Im Jahr 1977 erschien die Abenteuergeschichte „Abenteuer ohne Helden“ als Einzelalbum. Zuvor war die Story mit Überlebenden einen Flugzeugabsturzes 1975 als Fortsetzung in dem Comicmagazin Tintin erschienen. 1997 veröffentlichten Autor Jean Van Hamme und Illustrator Daniel Henrotin alias Dany eine Spionage-Geschichte, die eigenständig ist, aber eng mit jenem Flugzeugabsturz verbunden. 2007 entstand eine editierte Gesamtausgabe, in der noch eine Erzählung von „Largo Winch“ und eine kurze illustrierte Episode ergänzt wurden. Erwähnt sei, dass der Zwischenteil erstmals auf deutsch zu lesen ist.
Auch das ist inzwischen lange her und es fragt sich, wie diese Geschichten einer heutigen Leserschaft am besten nahe gebracht werden? Dazu sind sowohl Nachwort als auch Editionsgeschichte und Skizzen in der Gesamtausgabe kenntnisreich und lesenswert genug, dass sich der Rezensent auf die Geschichten beschränken kann. Und das ist am Ende des Tages, worum es geht: gute Geschichten. Daher sind die beiden Alben „Abenteuer ohne Helden“ und „20 Jahre danach“ auch Klassiker des Comics.
„Abenteuer ohne Helden“
Mitte der 1970er Jahre stürzt über dem brasilianischen Amazonas-Dschungel ein Flugzeug ab. An Bord sind 7 Crew-Mitglieder und 27 Passagiere. Die meisten kommen um. Die Gruppe der Überlebenden ist sich nicht klar, wie man aus dem Schlamassel herauskommt. Die Vorräte reichen noch für einige Tage und Handeln wird zur Überlebensfrage. Der Generalstabschef des (fiktiven) Staates Corugay und sein Adjutant warten einfach auf Rettung.
Den meisten Überlebenden scheint das angesichts der Abgeschiedenheit und Unwegbarkeit hoffnungslos. Der US-Manager Robert Willemsen macht sich mit einem Begleiter auf den Weg in den Dschungel, da werde sich schon ein Weg oder ein Dorf finden lassen. Dann hat der junge Industriellensohn Laurent Draillac die Idee einen Ballon zu bauen. So wie er es gerade bei Jules Verne gelesen hat. Die übrigen Überlebenden lassen sich auf die Aktion ein, doch es kommt immer wieder zu Störfeuern.
Spannendes Erzählen mit ausdrucksstarken Bildern
„Abenteuer ohne Helden“ ist ein klassisches Abenteuer. Dass jemand überlebt ist mit der in der Ausgabe enthaltenen „Fortsetzung“ keine Überraschung mehr. Dennoch: dazu später. „Abenteuer ohne Helden“ ist auch eine Variante des seinerzeit beliebten Katastrophenfilms und stilsicher im Zeitgeist der 70er angesiedelt. Nicht umsonst sieht der amerikanische Macho einem Paul Newman ähnlich.
Doch in dieser zusammengewürfelten Gruppe geht es auch um das Zusammenwirken der Personen und Interessen. Das Überleben ist allen wichtig, aber einige Leute scheinen wichtiger als andere zu sein. Die unterschiedlichen Strategien widersprechen sich bisweilen. Das ist von Jean van Hemme schon packend geschrieben und wirkungsvoll in Szene gesetzt.
Die Zeichnungen sind ebenfalls auf der Höhe der Zeit und haben wie damals üblich noch einen etwas cartoonigen Charakter. Dany, der ansonsten lustige Comic-Geschichten illustrierte, kommt mit ziemlich realistischem Artwork daher. Das ist auch angelehnt an eine amerikanische Zeichenkultur und bisweilen schimmert Will Eisner durch oder Superhelden-Zeichner wie John Romita und Gil Kane.
Ob das Dschungel-Setting realistisch wiedergegeben wird, ist dabei vollkommen unerheblich, denn es geht um die Idee von Urwald. Und die Zeichnungen in „Abenteuer ohne Helden“ sind von einer Stilistik, die zwar zeittypisch ist, aber von zeitloser Qualität. So bleibt das Spiel mit Licht und Schatten auf den Gesichtern der Charaktere herausragend und die Schattierungen von Grün machen auch heute noch große Freude.
„20 Jahre danach“
Etwa 20 Jahre nach dem Erschienen des Albums hat der inzwischen als Autor und Comic-Szenarist erfolgreiche Jean van Hamme (u.a. Largo Winch“) die Idee zu einer Spionagegeschichte, wie sie auch von John LeCarré oder Frederick Forsyth stammen könnte. Letzterer ist naheliegend, weil er einen Roman über ein Nazi-Netzwerk geschrieben hat („Die Akte Odessa“). Jene Organisation Odessa spielt auch in „Zwanzig Jahre danach“ eine Rolle. Der Junge des Flugzeugabsturzes, Lauren Draillac, hat inzwischen selbst Familie und führt das geerbte Traditionsunternehmen. Als er davon erfährt, dass andere Überlebende wie sein ehemaliges Kindermädchen auf mysteriöse Weise verschwinden oder tot aufgefunden werden, ist es schon fast zu spät. Draillac ist selbst in Gefahr.
Der israelische Geheimdienst Mossad hat Informationen, dass sich an Bord des abgestürzten Flugzeuges eine Namensliste untergetauchter Nazis befunden hat. Nur ist das Wrack nicht zu finden. Allerdings wird die Liste zum aktuellen Politikum, denn steht der angehende Generalsekretär der Weltfriedensorganisation in Verdacht, ein hochrangiger Nazi zu sein. Die Liste könnte das belegen. Ein Wettlauf zum Flugzeugwrack beginnt, und außer möglicherweise den Überlebenden hat niemand eine Ahnung, wo es sein könnte.
Netzwerke und Karrieren
So sehr „Abenteuer ohne Helden“ eine klassische Abenteuergeschichte ist, so sehr ist „20 Jahre danach“ ein stilsicherer Spionage-Thriller. Die Story ist kunstvoll und rätselhaft konstruiert und bei der Gelegenheit bekommen Leser:innen auch noch ein Wiedersehen mit alten Bekannten präsentiert. Allerdings in völlig neuen Rollen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das Leben nach der Katastrophe ist psychologisch ebenso faszinierend wie die Spionage-Geschichte nach dem Ende des Kalten Krieges nur sein kann. Das Anknüpfen an die Urbedrohung durch die Nazis ist ebenso plausibel wie Charakterentwicklungen der Figuren.
Um an „Abenteuer ohne Helden“ anzuknüpfen kommt erneut Comic-Künstler Dany ins Spiel. Der hat zwischenzeitlich alles andere als realistisch gezeichnet und illustriert, zeigt aber in „20 Jahre Danach“, dass er sich als Künstler entwickelt hat. Erneut treffen die Zeichnungen den damaligen Zeitgeist und unterscheiden sich so schon deutlich von dem Dschungelabenteuer aus den 70ern.
Mehr Schraffuren, klarere Konturen und mehr Details in den Hintergründen sorgen für opulentere Tuschezeichnungen. die Farbgebung wirkt dabei fast ablenkend, hat sich stilistisch aber gleichermaßen gewandelt. Weniger flächig, filigraner im Farbverlauf und in differenzierter in der Drucktechnik. Viele Panels haben die Anmutung von Pastellkreide was in den Siebzigern nicht gewollt und möglicherweise nicht machbar war.
Allein aufgrund dessen, wie sehr sich die beiden Comic-Alben unterscheiden, sind beide kaum vergleichbar und stehen für sich selbst. Durch ihre inhaltliche und kreative Verknüpfung ist ein einzigartiges Gesamtwerk entstanden, das zudem noch in beiden Abschnitten großartig und überraschend funktioniert und tatsächlich eine Einheit darstellt, die zurecht zu den Klassikern des franko-belgischen Comics zählt. Großartige Ausgabe inklusive.
Comic-Wertung: (9 / 10)
„Abenteuer ohne Helden“ & 20 Jahre danach“ – Gesamtausgabe
OT: „Histoire sans Héros“/“20 Ans aprés“, Edition Lombards, 2008
Autoir: Jean van amme
Illustrationen: Dany (Daniel Henrotin)
Übersetzung: Resl Rebiersch
Korrektorat: Pit Kannapin
Verlag: Schreiber & Leser
VÖ: 09.04.2024