Victim: Eine verletzte Zukunft

Das tschechisch-slowakische Sozialdrama „Victim“ erzählt von einer Gewalttat, die nicht nur das Leben einer allein erziehenden Mutter auf dem Kopf stellt, sondern auch gesellschaftliche Verwerfungen aufzeigt. Dabei zeigt sich der slowakische Filmmacher Michal Blaško als kluger und genauer Beobachter. Rapid Eye Movies bringt „Victim“ am 6. April 2023 in die Kinos.

Allein der Filmauftakt spricht Bände. Da steckt ein Reisebus an der Grenze zu Tschechien im Abfertigungsstau. Das kann die halbe Nacht dauern. Irina (Vita Smachelyuki) muss dringend in eine naheliegende Kleinstadt und macht sich selbständig auf den Weg. Der Auslöser für die überstürzte Rückkehr ist, das ihr dreizehnjähriger Sohn mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegt.

Igor (Gleb Kuchuk) wurde in der Sozialbau-Siedlung in der er mit seiner Mutter wohnt, verprügelt und eine Treppe hinuntergeschubst. Polizist Novotný (Igor Chmela) untersucht den Fall, hat auch einige Verdächtige, aber das Opfer selbst kann niemanden identifizieren.

Die Worte im Munde umdrehen.

Irina und Igor sind vor Jahren aus der Ukraine nach Tschechien gekommen, um hier ein neues Leben anzufangen. Nach dem Wohnheim zogen die beiden in eine Sozialsiedlung, in der auch viele Roma-Familien leben. Die Gegend hat keinen guten Ruf. Igor ist im Turnverein und Irina putzt für ihren Lebensunterhalt. Ein früherer Antrag auf Einbürgerung wurde bereits abgelehnt und dennoch plant Irina mit einer Freundin die Eröffnung eines Friseursalons.

Irina bekommt schnell Stress mit ihren Nachbarn. Auch weil deren Kinder von der Polizei befragt werden. Als der Überfall auf Igor bekannter wird, meldet sich ein erwachsener Turnerfreund, der einen Marsch organisieren möchte, um für mehr Sicherheit zu demonstrieren. Die Medien beginnen sich zu interessieren und auch die Bürgermeisterin kommt helfend auf Irina zu. Die Dinge werden unübersichtlich.

„Wo ein Eden uns entzückt…

Der Untertitel von „Victim“, so der internationale Verleihtitel der slowakisch-tschechisch-deutschen Koproduktion „obet“ deutet bereits an, dass die Sachlage nicht so übersichtlich ist, wie es eventuell scheint. „Everyone is a victim. Everyone is guilty.“ (Jede:r ist ein Opfer. Jede:r ist schuldig.) Und auch wenn es scheint, als wären die ukrainischen Einwanderer ein aktueller Bezug zum Ukraine-Krieg, so ist „Obet“ vor dem aktuellen Russischen Angriff auf die Ukraine entstanden. Allerdings gibt es bereits seit der Anexion der Krim durch Russland 2014 Konflikte, die viele Ukrainer bewegen ihre Heimat zu verlassen.

So geht Irina in der privat betriebenen Unterkunft für ukrainische Migranten als Reinigungskraft immer noch ein und aus. Gelegentlich muss sie für die Betreiberin dolmetschen. „Victim“ gibt seine Infos zu und über die Lebensumstände der Charaktere nur sehr spärlich heraus. So ist es nur eine vermeintliche Nebenbemerkung, warum Irinas erster Antrag auf Einbürgerung abgelehnt wurde. Bei einem solchen Einbürgerungsstatus braucht niemand einen Kontakt mit der Polizei oder Stress in der Nachbarschaft.

Für einen aktuellen Antrag muss Irina noch einen Sprachtest bestehen. Mit ihrer Freundin sucht sie nach geeigneten Räumlichkeiten für den Friseurladen und die Sorge um Sohn Igor, der wohl aufgrund der Verletzungen nie wieder wird Turnen können, kostet Energie. Und dennoch hatte die alleinerziehende Frau ihre komplizierte Lebenssituation ganz gut unter Kontrolle. Nun kommen durch den Überfall andere Kräfte in Bewegung. Die Nachbarin glaubt, Igor hätte ihren Sohn angeschwärzt. Die Bürgermeisterin weist auf mögliche Neonazis bei dem geplanten Marsch hin und Irinas Teilnahme als Betroffene wird vom Organisator medial effektiv ausgenutzt.

„…wenn der Lenz die Fluren schmückt.“ (tschechische Nationalhymne)

Dabei ist der Fokus des Sozialdramas jederzeit bei Irina und ihrem Sohn. Das Publikum ist selten klüger als die Protagonistin und es ist leicht, sich in die Lage und die Notwendigkeiten in Irinas Leben hineinzuversetzen. Bis dann immer wieder neue „Hürden“ auftauchen, die es zu überwinden gilt.

Nach einigen Kurzfilmen und TV-Serien ist „Victim“ der erste Spielfilm von Regisseur Michal Blaško und feierte seine Weltpremiere in Venedig im vergangenen Herbst und der Film konnte bereits einige Preise gewinnen. Neben der ruhigen und realistischen Betrachtung von Lebensumständen am Rand einer Gesellschaft ist es vor allem die darstellerische Kraft von Vita Smachelyuki, die dem ruhigen und packenden Drama seine resolute Überzeugung verleiht.

„Victim“ ist eine sehr genaue Beobachtung seines Themas und der Figuren. Durch unerwartete Wendungen und eine starke Hauptfigur wird „Obet“, so der Originaltitel, zu einem vielschichtigen, klugen und psychologisch differenzierten Sozialdrama, das sein Publikum jederzeit mitnimmt.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Victim
OT: Obet
Genre: Drama,
Länge: 91 Minuten, SK/CZ/D, 2022
Regie: Michal Blaško
Darsteller:innen: Vita Smachelyuki, Gleb Kuchuk, Igor Chmela
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Rapid Eye Movies
Kinostart: 06.04.2023