Ein neues Abenteuer von Hugo Pratts Weltenbummler „Corto Maltese“ ist immer ein Ereignis. Vor allem, weil auf diesen Seiten noch keines vorgestellt wurde, das die Comickünstler Juan Diaz Canales und Rubén Pellejero kreiert haben. Das Duo führt offiziell und mit viel Kunstfertigkeit die Abenteuer-Reihe weiter. „Nacht in Berlin“ ist die vierte Geschichte der beiden und das 16. in der „Corto Maltese“-Reihe. Ab in das finstere Deutschland der Zwanziger Jahre.
Corto Maltese trifft im April 1924 in Berlin ein, weil sein Freund Jeremiah Steiner ermordet wurde. Corto muss nicht lange überzeugt werden, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die Suche gestaltet sich etwas schwierig. Der österreichische Journalist Joseph Roth, ebenfalls ein Freund von Steiner, führt Corto Maltese durch ein Berlin, das auf der Rasierklinge tanzt.
Die junge Weimarer Republik ist keinesfalls stabil, überall machen sich reaktionäre, patriotische Tendenzen breit. Die Stimmung ist angespannt und Nicht-Deutschen gegenüber mindestens misstrauisch, meist aber ablehnend. So müssen sich Roth und auch Corto regelmäßig bei der Polizei melden, die darüber befindet, ob ihr Aufenthalt noch geduldet wird.
Wie es scheint, war der trinkfreudige Jeremia Steiner auf der Suche nach einer wertvollen Tarot-Karte. An dieser Karte sind die Mystiker und Alchimisten der Geheimgesellschaft Stella Matutina ebenso interessiert wie die revanchistische Organisation Consul. Corto Maltese findet sich in Mitten in einer absurden Schatzsuche wieder.
Verschwörungen und Geheimgesellschaften
„Nacht in Berlin“ ist ein ebenso typisches wie gelungenen „Corto Maltese“–Album. Die Geschichte ist komplex in eine reales und realistisches Setting eingebaut und spielt mit historischen Personen, die beinahe nebensächlich eingebaut werden. Das hatte schon bei Corto-Erfinder Hugo Pratt Methode, der dem „Kapitän ohne Schiff“ gerne mal Literaten an die Seite stellt. So wie etwas Jack London in „Abenteuer einer Jugend“.
In „Nacht in Berlin“ greift die Story auf den Journalisten und Schriftsteller Joseph Roth zurück. Der (reale) Sohn galizischer Juden ist Österreicher, verbringt sein frühen Berufsjahre aber zunächst in Frankfurt und dann in Berlin als Korrespondent. Roth hat einige Romane von Weltrang verfasst („Hotel Savoy“, „Hiob“, „Radetzkimarsch“), gilt als trinkfest und umtriebig. Genau die richtige Gesellschaft für einen wortkargen Weltenbummler.
Genausogut aber hätte Autor Canales aber auch Elias Canetti in die Story einbinden können. Ebenfalls Österreicher jüdischer Herkunft und Zeitzeuge der Berliner Zwanzigerjahre-Boheme. Vielleicht hat der Literatur-Nobelpreis Canettis die Corto-Macher eingeschüchtert. Canetti fiel mir ein, weil sein Hauptwerk „Masse und Macht“ sich mit dem Phänomen der Massengesellschaft beschäftigt. Obschon erst in den 1950ern veröffentlicht, arbeitet Canetti schon seit den 1920ern daran.
Ein Golem und die triumphierende Bestie
Im Vorwort nimmt Jean-Yves Tadié, emeritierter Professor und Experte für Proust und Abenteuerliteratur, Bezug auf die realen Hintergründe und die Zeitzeichen in „Nacht in Berlin“, die so großartig eingearbeitet sind. Dabei bemerkt er, dass der Begriff „Massengesellschaft“ anachronistisch ist, da er seinerzeit nicht gebräuchlich war. Das mag wohl stimmen und ich habe nicht vor an dieser Stelle mit dem Experten zu streiten. Dennoch ist das gesellschaftliche Phänomen der „Masse“ in den 1920ern längst in aller Munde und Gegenstand soziologischer Studien. Wie erwähnt, war Canetti schon daran interessiert. Die Soziologen Max Weber und Emile Durkheim hatten bereits darüber geforscht und veröffentlicht.
Aber zurück zu Corto Maltese und dem Berliner Nachtleben. Ein wenig fühlt sich das Abenteuer an wie eine Schnitzeljagd, die von einem zur nächsten und von hier nach dort führt. Nämlich von Berlin nach Prag. Parallel dazu bewegt sich auch ein Teil der Szene, in der Corto „ermittelt“. Das Filmteam einer deutschen Produktion dreht erst in Berlin und dann in Prag. Ein wenig verwirrend kommt die Story gelegentlich daher und die expressionistischen Sequenzen tragen zum Zeitkolorit bei, nicht aber zur Klarheit der Erzählung. Dennoch, die Geschichte überzeugt und Juan Diaz Canales bewegt sich eindeutig in den Fußstapfen Hugo Pratts.
Gleiches gilt für die Zeichnungen von Ruben Pellejero. Das ikonische Antlitz des Piraten bleibt immer erhalten und auch die Bildaufteilung und der Seitenaufbau folgen der Pratts’schen Marschroute. Allerdings gibt es auch hier Eigenheiten und Unterschiede. Pellejeros Figuren sind etwas cartoonhafter, Nasen knolliger und Silhouetten weicher als bei Pratt. Ebenso sind die Striche voller und weniger skizzenhaft. Das hat durchaus seinen eigenen Charme und steht eher in der Tradition klassischer Ligne Claire.
Den größten Unterschied aber macht die Farbigkeit in den kolorierten Alben. Wie alle Prattschen „Corto Maltese“-Abenteuer sind auch diejenigen von Canales und Pellejero in zwei Varianten zu haben. Die Klassiker-Edition in Schwarz-Weiß und die kolorierte Fassung. Und die unterscheidet sich stark von den Prattschen Farbalben, die von Patrizia Zanotti nachträglich im Aquarellstil koloriert wurden. Das gibt den Zeichnungen einen sehnsuchtsvollen Charakter, so wie das Verblassen einer Erinnerung.
„Es sind überhaupt harte Zeiten.“
In dem neuen Abenteuern, sind die Hintergründe kraftvoll monochrom und die Farbpalette wird voll und effektiv ausgeschöpft. Die düsteren Auftaktpanels der Theateraufführung sind ebenso markant wie die Traumsequenz über die Prager Geschichte auf Seite 44. Wer daran Spaß findet, sollte vielleicht einmal die historischen Krimis von Leo Perutz lesen, die heutzutage weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Vor allem „Der schwedische Reiter“ und „Nachts unter der steinernen Brücke“, das im historischen Prag spielt. Aber ich schweife schon wieder ab.
Daran merkt man wie kunstvoll und lesenswert die „Corto Maltese“-Reihe auch in den aktuellen Ausgaben ist. Die Lektüre regt zum Vertiefen und Nachforschen an. Die Geschichten wollen an der historischen Realität gemessen werden und immer auch eine historische Situation beleuchten. Die deutsche Hauptstadt in „Nacht in Berlin“ befindet sich gerade am Kipp-Punkt wo die „Goldenen Zwanziger“ mit ihren Exzessen und Freiheiten von der wieder erstarkten, nationalen, patriotischen Spießigkeit eingefangen wird, die letztlich in den Faschismus mündete.
„Corto Maltese“ bleibt auch im 16. Band „Nacht in Berlin“ die erste Adresse für alle Freund:innen historischer Abenteuerliteratur. Das Kreativ-Team Canales und Pelejero erschafft Erstaunliches, um in Hugo Pratts Geist weiter zu wirken. Selbst wenn nicht alles Gold ist was glänzt, weiß dieser „Corto Maltese“-Band zu gefallen.
Comic-Wertung: (8 / 10)
Corto Maltese – Band 16: Nacht in Berlin
OT: Corto Maltese: Nocturno Berlinés, Casterman, 2022
Genre: Comic, Abenteuer, Geschichte,
Autor: Juan Diaz Canales
Zeichner: Rubén Pellejero
Vorwort: Jean-Yves Tadié
Übersetzung: Resel Rebiersch
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 88 Seiten
VÖ: 05.10.2022