Platzspitzbaby – Streuner und Heimathäfen

Der Titel dieses schweizer Drogendramas, in dessen Mitte ein junges Mädchen mit süchtiger Mutter steht, erschließt sich nicht ohne Weiteres und ohne Szenekenntnisse. Seit Ende der 1980er Jahre war die Platzpromenade in Zürich, „Platzspitz“ genannt, Schauplatz einer offenen Drogenszene. Regisseur Pierre Monnard verfilmt einen autobiografischen Roman und die elfjährige Mia sorgt für eine überraschende Perspektive auf ein gesellschaftliches Problem.

Mia (Luna Mwezi) ist mit ihrer Mutter Sandrine (Sarah Spale) gerade in eine Kleinstadt im Züricher Oberland gezogen. Mutter Sandrine scheint den Drogenentzug und die Ersatzmedikamente gut anzunehmen. Doch für Mia ist die Situation dennoch nicht leicht. In der neuen Schule wird sie nicht akzeptiert, da hilft auch die Theater-AG wenig. Mia freundet sich mit einer Clique Kids an, die ebenfalls am sozialen Rand stehen.

Als Sandrine einen alten Bekannten aus Züricher Tagen trifft, gerät die Mutter wieder in Versuchung. Schnell ist der Kontakt zur lokalen Szene hergestellt und die Sucht bestimmt in kürzester Zeit auch Mias Alltag. Die Elfjährige muss ihrer Mutter beim Klauen helfen und sie beim Sozialamt decken.

„My grandfather and me

Als Mitte der 1990er Jahre der Platzspitz und die folgenden Ausweichorte der Drogenszene Zürichs endgültig geräumt wurde, war eine der Maßnahmen, dass „kantonsfremde“ Abhängige, also jene, die nicht aus Zürich kamen, konsequent in ihre Heimatgemeinden zurückgeführt wurden. Diese waren zum Teil hoffnungslos überfordert.

So auch im Fall von Mia und ihrer Mutter. Es geht in „Platzspitzbaby“ also weniger um die offene Züricher Drogenszene, als darum, welche Folgen sich zeigten, als die Szene zwar rigoros, aber gesellschaftlich wenig begleitet, aufgelöst wurde. Filmisch werden in „Platzspitzbaby“ die unterschiedlichen Stadien der Sucht und des Entzugs als Wegmarken für die Überlebenskünste und die Verwahrlosung der elfjährigen Tochter vorgeführt.

Around Nassau town we did roam

Was das schweizer Drama dabei so besonders macht, ist die kindliche Perspektive und die großartige Darstellung von Luna Mwezi als Mia. Das Mutter-Tochter-Verhältnis, das komplett aus der Sicht der Tochter gezeigt wird, macht die Wirkung des Films aus. Dabei ist „Platzspitzbaby“ keinesfalls als Jugendfilm angelegt, wenngleich das biografische Drama auch als solcher funktioniert. Immerhin ist der Film von der FSK ab 12 Jahren freigegeben.

Es ist keineswegs so, dass die Themen in „Platzspitzbaby“ nicht bereits in anderen Filmen gezeigt wurden, aber tatsächlich bringt Mias Perspektive Aspekte ans Licht, die sonst eher selten zu sehen sind. Etwa die kindlichen Fluchtmechanismen. Der musizierende Freund, der immer auftaucht, wenn Mias Lieblingslied und Kraftquelle gefordert ist.

Drinking all night Got into a fight

Nicht umsonst wird hier der alte Beach Boys Hit „Slope John B“ benutzt, in dem es textlich darum geht, dass ein junges Mitglied einer Schiffsbesatzung auf den rabaukenhaften Irrfahrten nicht nur großes Heimweh verspürt, sondern auch ein Gefühl des Verloren Seins, der eigenen Auflösung. Und wenn Mias Kassetten-Walkmann mal den Geist aufgibt, reicht auch die eigene Vorstellung, um den Song und den eingebildeten Freund herbeizurufen.

Well, I feel so broke up

Es ist, wie bei allen Filmen, in denen es darum geht, die Verletzlichkeit Schutzbefohlener zu thematisieren, nicht immer leicht, als Zuschauer:in die eigene Ohnmacht und Wut auszuhalten, die eine:n angesichts des familiären Chaos befällt. Immer wieder stellt sich auch die Frage, warum das Kind bei der drogensüchtigen Mutter bleibt, wenn es auch beim leiblichen Vater leben könnte? Doch gerade dieser Zwiespalt macht „Platzspitzbaby“ sehenswert. Der Film ist deutlich irritierenden, wenn er im Schwizterdütschen Original ertönt, allein, weil die Sprache scheinbar so beschaulich klingt.

I wanna go home“ (Beach Boys „Slop John B“)

Just in diesem Februar ist die Räumung des Platzspitz Dreißig Jahre her und hat in der Schweiz zu einer Rückbetrachtung und Analyse der damaligen Ereignisse geführt. Damals war sicher nicht alles Gold was glänzte und der Film ist nicht umsonst allen „vergessenen Kindern“ gewidmet.

Das Schweizer Drama „Platzspitzbaby“ schildert die Zerstörung des Familienlebens aus der Sicht eines elfjährigen Mädchens. Die Verfilmung des gleichnamigen erfolgreichen autobiografischen Buches gehört nicht umsonst zu den erfolgreichsten schweizer Filmen.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Platzspitzbaby – Meine Mutter, die Drogen und ich
Genre: Drama, Biografie,
Länge: 96 Minuten, CH, 2020
Regie: Piere Monnard
Vorlage: „Platzspitzpaby“ Autobiografie von Micvhelle Halbheer und Franziska K. Müller
Darsteller:innen: Luna Mwezi, Sarah Spale
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Eurovideo
Kinostart: 18.11.2021
EST: 19.03.2022
DVD- & BD-VÖ: 24.03.2022