TV-Sender und Streaming-Dienste suchen konstant nach neuen Stoffen für Serien und landen dabei immer häufiger bei Comic-Serien. Zum einen, weil diese inzwischen durchaus auch literarischen Ansprüchen genügen, zum anderen, weil für die Verfilmung bereits Bildwelten vorhanden sind. So auch bei Jeff Lemires hochgelobter dystopischer Saga „Sweet Tooth“. Zeitig zur Ausstrahlung bei Netflix veröffentlichte Panini-Comics eine Neuadaption der Serie, die Lemire selbst fabrizierte und die in den USA auf DCs Black Label erschien. Mit einiger Verzögerung hier also die Vorstellung von „Sweet Tooth – Die Rückkehr“.
Gus ist ein Junge mit einem Hirschgeweih, der allein in einer Hütte im Wald lebt. Das Waldstück wird von Dronen bewacht und gelegentlich bekommt er Besuch von Nonnen und von deren Anführer, dem Vater. Vater scheint für die Geschicke der Gesellschaft verantwortlich zu sein und auch dafür, dass Gus so isoliert im Wald lebt.
Doch Gus hat seltsame Erinnerungen, die so gar nicht zu seinem Alltag passen wollen. Eines Tages beschließt Gus den Wald zu verlassen und abzuhauen. Es gelingt ihm die Dronen zu überlisten und so findet sich der Junge mit dem Hirschgeweih in einer riesigen Höhle wieder, in der eine Dorfgemeinschaft für Vater Felder bewirtschaftet. Gus wird von dem Mädchen Penny entdeckt, die ihm Hilft, sich zu verstecken. Doch Vaters Handlanger sind Gus auf den Spuren und gehen rücksichtslos gegen alle vor, die verdächtig sind, dem Hybridjungen zu helfen.
Im Jahr 2012 begann der kanadische Comic-Künstler Jeff Lemire seine dystopische Saga „Sweet Tooth“ über den mutierten Menschenjungen Gus. Der Junge mit dem Hirschgeweih und der Vorliebe für Süßigkeiten geriet in das Visier von Kopfgeldjägern und mächtigen Leute, die versuchten, das Schicksal und Überleben der Menschheit nach einer Seuche für ihre Machtinteressen zu lenken. Gus bekam Hilfe von dem Haudegen Jepperd und lernt, dass er nicht der einzige Junge mit Tieranteilen ist. Die Hybriden scheinen die Zukunft der Menschheit zu sein.
Neben der Comic-Serie „Y – The Last Man“, die ebenfalls gerade als TV-Serie umgesetzt wird, ist „Sweet Tooth“ einer der großen dystopischen Comic-Epen der vergangenen Jahre aus der Independent-Schule, die nicht aus den großen Comic-Verlagen erschien. Inzwischen hat DC das Vertigo-Label verinnerlicht und somit auch „Sweet Tooth“ geerbt, dessen Fortschreibung nun folgerichtig auf DCs Black Label“ erscheint. Soviel zur Veröffentlichungsgeschichte.
Jeff Lemire gehört bereits seit seiner ersten herausragenden Graphic Novel „Essex County“ zu den ganz großen Erzählern der Comic-Kunst. Wenn es Zeit und Projekt zulassen, besorgt Jeff Lemire auch das Artwork. Wie im Fall von „Sweet Tooth“. Der rustikale, etwas grobschlächig anmutende Stil der Zeichnungen ist durchaus kunstvoller als es auf den ersten Blick wirkt. Die Charaktere sind immer deutlich erkennbar, Gestik und Mimik sind in ihrer Reduziertheit beinahe archaisch elementar und Panelgestaltung und Perspektive sind ebenso kunstvoll wie cineastisch. Gleich, ob Leser:innen den Stil mögen oder nicht, das ist stimmige große Illustrationskunst.
Wie bereits in der über 40 US-Hefte laufenden Original-Saga ist auch in „Sweet Tooth – Die Rückkehr“ José Villarrubia für die Kolorierung zuständig. Mit reduzierten Farbwerten, schlichten Hintergründen und gelegentlichen, aquarellierten Schattierungen ist die Farbgebung ebenso rustikal schlicht wie Lemires Zeichenstil und ebenso kunstvoll.
Die Geschichte in „Sweet Tooth – Die Rückkehr“ nimmt alle wesentlichen Elemente der ursprünglichen Saga auf, packt sie in eine neue zukünftige Rahmenhandlung und ist so zugleich eine sinnvolle Ergänzung zu TV-Serie und eine eigenständige Neuinterpretation der Originalen Comic-Serie und ein stimmiger, kurzweiliger und schnellerer Einstieg für neue Leser, die vielleicht erst durch die Netflix-Serie auf Sweet Tooth aufmerksam geworden sind. Altgediente Fans werden aber genauso überraschend unterhalten und mit vielen Verweisen auf Pop-Kultur und Sci-fi (z.B. „Elephant-Man, „Planet der Affen 2“) erneut in die Welt von Naschkatze Gus hineingezogen.
Trotz aller Bedenken des Rezensenten, dass Jeff Lemire einen faden Aufguss seiner furiosen Serie abliefern könnte, hat die Neukalibrierung der Geschichte mich nach wenigen Seiten gepackt. Spannend und ausgesprochen klug trägt Lemire das Thema genetische Anpassung an eine veränderte Umwelt auf ein neues düsteres Level und entwickelt dabei nicht nur die Gedanken und Szenarien der Dystopie weiter, sondern bleibt zugleich der ursprünglichen Saga treu und überführt diese in eine Legendenwelt, auf deren Basis „Sweet Tooth – Die Rückkehr“ sich aus dem Untergrund erhebt.
Comic-Wertung: [8]
Sweet Tooth – Die Rückkehr
OT: Sweet Tooth – The Return, DC Black Label
Genre: Comic, Sci-Fi,
Autor & Zeichner: Jeff Lemire
Farben: José Villarrubia
Übersetzung: Gerlinde Althoff
ISBN: 9783741624391
Verlag, Panini Comics, Softcover, 156 Seiten,
VÖ: 06.07.2021