Cassandras Traum: Wie weit würdest du gehen?

Mit dem Familiendrama „Cassandra’s Dream“ hat sich der New Yorker Autorenfilmer Woody Allen 2008 in die Familienstruktur der britische Arbeiterklasse begeben. Bereits seine vorangegangenen Werke waren in London ansiedelte, weil Dreharbeiten in seiner Heimatstadt wohl aus privaten Gründen nicht zur Debatte standen. Also hinein in die Träume zweier Brüder, die bei der Kritik seinerzeit eher durchfielen, mir aber mit Ewan McGregor und Colin Ferrell gut gefallen haben.

Die Brüder Terry (Colin Farrell) und Ian (Ewan McGregor) sind Gewächse der Londoner Arbeiterklasse. Beide haben teure Träume und sind ständig von Finanznöten geplagt. Als Terry beim Hunderennen gewinnt, kaufen sich die Brüder zusammen eine Yacht, “Cassandra’s Traum”.

Doch dann wendet sich das Glück und Terry steckt tief in Spielschulden. Ian will derweil in ein “absolut sicheres” Hotelprojekt investieren. Die beiden wenden sich an Onkel Howard (Tom Wilkinson), der seinen Weg gemacht hat und den Jungs gerne behilflich ist. Familie ist schließlich Familie. Allerdings gibt’s da gerade ein Problem, das die Brüder für Howard erledigen müssten…

Das Problem stellt sich als handfester Mord heraus, denn Onkel Howard steht kurz vor dem Ruin. Seine Existenz hängt an der gerichtlichen Aussage eines Mitarbeiters, der sich als sehr “uneinsichtig” erwiesen hat. Der Mann muss weg. Für Howard ein fairer Tausch: Ihr helft mir, damit ich euch helfen kann. Doch ganz so einfach gestaltet sich das Vorhaben nicht.

Erneut ist Woody Allens Film in London angesiedelt. Dieses Mal wendet sich der Altmeister den Träumen und Sehnsüchten der Arbeiterklasse zu, um in klassischer Manier ein Drama zu inszenieren. Der Filmtitel “Cassandra’s Traum” bezeichnet nicht nur das Segelboot der Brüder, benannt nach dem Gewinner im Glück bringenden Hunderennen, sondern ist durchaus als Verweis auf griechische Tragödien zu verstehen.

Cassandra, von den Göttern mit der Gabe der Vorhersehung ausgestattet, warnt die Trojaner vergeblich vor der Arglist der griechischen Belagerer und prophezeit den Untergang. Filmisch ist “Cassandra’s Traum” sehr ruhig gehalten und gemahnt wohltuend an Kammerspielszenen. Kameramann Zsigmond ist ein Meister seines Faches, ebenso wie Philip Glas, der für die Musik verantwortlich ist.

Wie schon in “Matchpoint” (2005), mit Scarlett Johansson und Jonathan Rhys Myers versucht das Schicksal die Protagonisten und packt sie bei ihrem Streben, nur um letztendlich doch unentrinnbare Fallstricke zu offenbaren. Woody Allen ist und bleibt ein Moralist: Er stellt moralische Fragen.

Die Performances der beiden Brüder und des Onkels sind grandios und haben den Darstellern bei der Weltpremiere in Vendig zu Recht “Standing Ovations” eingebracht. Tom Wilkinson (”Michael Clayton”, “Ganz oder gar nicht”) als Onkel Howard hat zwar nur wenige, aber intensive Auftritte, und führt konsequent vor, wie ein Mann, der es geschafft hat, verzweifelt zu allen Mitteln greift, um seinen Besitzstand zu wahren.

Erstaunlich ist vor allem die Natürlichkeit der Brüder: Colin Farrell (”Alexander”, “Intermission” – hier in einer seiner überzeugendsten Rollen) und Ewan McGregor (”Star Wars – Episode 1 bis 3″, Trainspotting”) könnten auch im wirklichen Leben als Geschwister durchgehen. Dabei ist jedem von ihnen die Rolle auf den Leib geschrieben. Terry ist der Malocher mit dem Hang zu Spiel und Alkohol, während Ian der Prototyp eines naiven Karrieristen mit einer Vorliebe für alte Autos und schöne Frauen ist.

Letztlich stellt sich erstaunlicherweise der Spieler als derjenige heraus, dessen Weltbild standhaft ist und der seine Grenzen und Wurzeln anerkennt. Zwangsläufig meldet sich Terrys Gewissen. Während Ian über Leichen gehen würde, und es auch tut, um sein Ziel eines anderen, reicheren, glamuröseren Lebens zu erreichen.

Wer es sich zutraut, der sollte “Casandra’s Dream” im Original anschauen, denn das stilsichere Cockney des Iren Farrell und des Schotten McGregor verleihen dem “Working Class Drama” eine Tiefe, die der Synchronisierung zwangsläufig zum Opfer fällt.

Ein gelungenes, auch wieder typisches Woody Allen Werk, das von der Brillanz der Hauptdarsteller lebt. Diesem Mal geht es nicht typischerweise um Beziehungsfragen, sondern um Familienbande und Klassengrenzen. Zwischen Hochfinanz und Kleinkriminalität ist „Cassandra’s Traum“ ein schönes Gaunerstück.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Cassandras Traum
OT: Cassandra‘s Dream
Genre: Drama, Thriller
Länge: 98 Minuten, GB, 2007
Regie: woody Allen
Darsteller: Colin Ferrell, Tom Wilkinson, Ewan McGregor
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Constantin (Universal)
Kinostart: 05.06.2008
DVD-6 BD-VÖ: 04.12.2008