Beinahe still und heimlich kommt auch hierzulande die zweite Staffel der charmanten kanadischen TV-Serie „Anne With An „E“ auf den Markt. Justbridge Entertainment veröffentlicht das Serien-Kleinod auf DVD und Blu-ray für das Home-Entertainment, für alle die sich mit dem Streaming Plattformen noch nicht recht anfreunden mögen. An der zweiten Staffel der Serie nach den Kinderbüchern von Lucy Maud Montgommery werden sich die Geister scheiden, denn die Staffel ist ihrer Zeit deutlich voraus.
Geneigte Zuschauer:innen und Leser:innen werden bemerkt haben, dass dies als Anspielung auf den Titelsong „Ahead of the Century“ von The Tragically Hip zu verstehen ist. Um es gleich vorweg zu sagen: In der zweiten Staffel entfernt sich die TV-Serie, die von CBC und Netflix co-produziert wurde, deutlich von der literarischen Vorlage. Das beinhaltet auch einige neue Charaktere und Themen, die nicht notwendigerweise von allen Zuschauer:innen als kindgerecht also familientauglich angesehen werden.
Anne und die Cuthberts hingegen kommen mit den neuen Herausforderungen ganz gut zurecht und es ist mehr als nur unterhaltsam das rothaarige Adoptivkind zu beobachten, wie es Luftschlösser baut und Tagträumereien hinterherjagt. Aber bevor es an dieser Stelle ausführlicher um die zweite Staffel geht, eine Einführung für neue Fans (und Achtung, für die erste Staffel besteht hier sozusagen Spoiler-Alarm). Eventuell lohnt es sich zunächst die Rezension der ersten Staffel zu lesen, oder diese direkt anzuschauen.
Eigentlich wollte das ältliche Geschwisterpaar Marilla (Geraldine James) und Matthew (R.H. Thompson) Cuthbert einen Jungen aus dem Waisenahaus holen, damit er auf der Farm „Green Gables“ hilft. Durch eine Verwechslung taucht das 13jährige Waisenmädchen Anne Shirley (Amybeth McNulty) in dem kleinen besiedelten (fiktiven) Flecken Avonlea auf Prince Edward Island in Nova Scotia an der kanadischen Ostküste auf. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bleibt Anne bei den Cuthberts und hat auch in der Schule einige Freunde gefunden. Vor allem Diana Berry (Dalila Berry) hat sich zu Annes bester Freundin entwickelt und auch Gilbert Blythe (Lucas Jade Zumann) kommt gut mit Anne klar.
Am Ende der ersten Staffel macht sich Gilbert nach einem tragischen Verlust auf, die Welt zu erkunden und seinen Platz in ihr zu suchen. Und dann wären da noch die beiden Kostgänger, die sich bei den Cuthberts eingemietet haben. Der eine gibt vor, Geologe zu sein, der hier Bodengutachten erstellen soll. Zuschauer wissen allerdings, dass es diese beiden Kerle waren, die Jerry, den Jungen der auf Green Gables aushilft, überfallen haben.
Nun, zu Beginn der zweiten Staffel von „Anne With An „E“, scheint es, als habe der Geologe Gold gefunden und macht damit die gesamte Bevölkerung von Avonlea verrückt. Während Dianas Vater der Aussicht auf Reichtum sehr zugetan ist, sind die Cuthberts froh, gerade ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwunden zu lassen. Sie würden Anne lieber eine Farm hinterlassen als aufgebrochenes, durchwühltes Land.
In der Schule tut sich derweil einiges, der junge Lehrer scheint sich in eine ältere Schülerin verguckt zu haben und da stehen romantische Verwicklungen an, gleichzeitig zeigt der junge Cole, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, erstaunliches künstlerisches Talent. Das finden seine rauflustigen Mitschüler nicht immer bewundernswert.
Gilbert hat derweil als Heizer auf einem Dampfschiff angeheuert und lernt dort den sympathischen Sebastian „Bash“ (Dalmar Abuzeid) kennen. Der Farbige stammt aus Trinidad und freut sich schon darauf, Gilbert seine Heimatinsel zu zeigen. Doch die Rückkehr ist nicht ungetrübt und als Gilbert von dem vermeintlichen Goldvorkommen in Avonlea hört, macht er sich auf den Rückweg; seinen neuen Freund nimmt er gleich mit.
Serien-Mastermind Moira Walley-Beckett dehnt den Handlungsrahmen der literarischen Vorlage “Anne auf Geeen Gables” von Lucy Maud Montgomery in der zweiten Staffel von „Anne with An „E““ erheblich aus. So ist die Figur des „Bash“ ihre eigene Erfindung und sorgt in dem beschaulichen Provinz-Städtchen Avonlea für eine Beschäftigung mit dem Thema Segregation und Rassismus. Von einem „Sumpf“ genannten Slum für Farbige, in dem Bash auch noch eine attraktive Frau kennenlernt, war in der Vorlage sicher nicht die Rede. Das dürfte ebenso für Verwirrung sorgen wie die Thematik sexueller Orientierung und Freiheit der Liebe und des Denkens in dieser Staffel sehr präsent sind. Das mag im Geist der Autorin sein, doch es ist eine Weiterentwicklung; und sie ist sehr modern erzählt.
Moira Walley-Beckett hat ihre “Anne”-Interpretation von Beginn am recht frei, wesentlich weniger kindgerecht (oder anders formuliert familienfreundlicher) und ausgesprochen dramatisch in Szene gesetzt, nun führt die Serie ihren Weg konsequent fort. Zuschauer:innen mögen das für unverhältnismäßig halten, doch die TV-Serie ist ein eigenständiges Werk, die Ausformulierungen sind nicht nur legitim, sie sind ausgesprochen unterhaltsam.
Es ist auch nicht so, dass nur Anne sich in der zweiten Staffel weiterentwickelt auch die Cuthberts teilen weitere Sorgen, Erinnerungen und Gedanken mit dem Publikum. Es gelingt der Serie erneut, den Focus so auch gelegentlich von Anne abzuziehen und viele Charaktere einigermaßen ausgewogen zu portraitieren. Das verhilft „Anne“ zu einer erstaunlichen dramatischen Tiefe. Übrigens dauert diese Staffel auch zehn Folgen, also zwei Gelegenheiten mehr, Avonlea und seine Bewohner zu zeigen.
In den USA und in Kanada hat diese zweite Staffel, auf die zumindest noch eine weitere folgt, das Publikum und die Kritiker gespalten: die Puristen hielten Annes neue Abenteuer für geradezu messianisch modern, die Befürworter mochten gerade darin eine erzählerische und dramatische Qualität sehen, die „Anne with an E““ zu einem Serien-Highlight macht.
Ein bisschen kann sich der Rezensent in beide Positionen hineinversetzen, fühlt sich schon irritiert wenn die Freundinnen in Gehwegbreite um die Ecke schweben wie ein Punk-Rock-Band im Musikvideo, kann sich aber des schwunghaften Momentums auch nicht entziehen. Vielleicht sollten Zuschauer:innen einfach mit wachem Geist wahrnehmen, was sich da in der großartigen und empfehlenswerten Serie tut, ohne groß auf einer moralischen Schiene zu fahren. Die rothaarige Sommersprossige Anne Shirley Cuthbert hat einfach Charisma und Charme.
Serien-Wertung: (9 / 10)
Anne With An „E“ – Neues aus Green Gables – Staffel 2
OT: Anne With An „E“, Season 2
Genre: TV-Serie, Drama, Familie
Länge: 447 Minuten (10 Folgen), CDN, 2018
Idee: Moira Walley-Beckett
Vorlage: Lucy Maud Montgomery „Anne of Green Gables“ (1908)
Regie: Helen Shaver, Paul Fox, Anne Wheeler et al.
Darsteller: Amybeth McNulty, R.H.Thomson, Geraldine James
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: Justbridge Entertainment,
DVD- & BD-VÖ: 25.09.2020
Offizielle Webseite bei Netflix
Anne auf Green Gables beim Loewe Verlag
„Anne with an E“ bei justbridge entertainment