Anne with an „E“: Neues aus Green Gables – Staffel 1

Die junge Dame, um die es in dieser Serie geht, hätte gerne, dass man ihren Namen mit einem E am Ende schreibt, das würde schlicht eleganter aussehen. Überhaupt neigt dieses rothaarige Waisenmädchen zu Dramatik und romantischen Schwärmereien. Nicht gerade verbreitete und geschätzte Eigenschaften im der rauen Landschaft Neu Schottlands gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Justbridge Entertainment bringt die erste Staffel der erfolgreichen Netflix-Serie „Anne with an E“ nun auf DVD und Blu-ray für das Home-Entertainment heraus.

Durch eine Verwechslung wird das 13jährige Waisenmädchen Anne Shirley (Amybeth McNulty) zu den ältlichen Geschwistern Matthew (R.H.Thomson) und Marilla (Geraldine James) Cuthbert geschickt. Die wollten eigentlich einen Jungen adoptieren, damit er auf der Farm hilft. Die Geschwister sind unverheiratet und bewirtschaften „Green Gables“ auf Prince Edward Island in Nova Scotia an der kanadischen Ostküste schon seit etlichen Jahren zusammen.

Nun also holt der zurückhaltende Matthew ein unermüdlich plapperndes Mädchen vom Bahnhof ab, weil sie zumindest für die Nacht ein Dach überm Kopf braucht. Die Cuthberts sind sich eigentlich einig, das Kind am kommenden Tag zurückzuschicken. Wobei Junggeselle Matthew schon einen kleinen Narren an der überschwänglichen Rothaarigen gefressen hat. Schließlich willigt auch Marilla ein, es zumindest mit Anne zu versuchen. Sie bleibt auf Probezeit.

Es ist nicht wirklich ein Geheimnis, dass Anne Shirley ihre Probewoche auf Green Gables trotz einiger Missgeschicke und einer sehr freimütigen Redeweise übersteht und bei den Cuthberts ein neues Zuhause findet. Es ist insofern kein Geheimnis, da die Serie „Anne With an E“ auf dem Kinderbuchklassiker „Anne auf Green Gables“ von Judy Maud Montgomery beruht. Der erste Roman mit Abenteuern der rothaarigen Anne erschien 1908 und Miss Montgommery schrieb etliche weitere Bücher um ihre junge und auch erwachsene Heldin. Hierzulande sind die Anne-Bücher im Loewe Verlag erschienen. Der deutsche Wikipedia-Eintrag weiß immerhin noch zu berichten, dass „Anne auf Green Gables“ eines der Lieblingsbücher von Astrid Lindgren war und dafür gesorgt hat, dass deren Pippi Langstrumpf ebenfalls mit roten Haare und Sommersprossen ausgestattet wurde.

Allerdings kann die spiddelddürre Anne weder ihre Haarfarbe noch ihre Sommersprossen gut leiden und verzweifelt in ihrer kindlichen Eitelkeit ein ums andere Mal daran, ein Rotfuchs zu sein. Ansonsten ist diese Anne Shirley ein aufgewecktes Mädchen und Drehbuch-Autorin und – wie man neudeutsch so nett sagt Show Ruinnerin – Moira Walley-Beckett hat für ihre Neuinterpretation des bereits sehr häufig verfilmten Romans einen etwas weniger kindlichen Ansatz gewählt. Das ist in gewisser Weise auch modern, sorgt aber für etwas mehr Düsternis und mehr Tragik, des ohnehin schon schweren Waisenschicksals. Überraschenderweise geht das Konzept ausgesprochen gut auf und der „Kinderbuch-Klassiker“ wird auch zur veritablen Erwachsenen-Unterhaltung.

Dieser Ansatz ist erfrischend und überzeugend, denn Moira Walley-Becket war bereits für den Serien-Hit „Breaking Bad“ und auch für die mehrfach Emmy-nominierte Mini-Serie „Flesh and Bone“ verantwortlich. Vielleicht wirkt Anne anfangs etwas zu nerdy und zu sehr aus der Zeit gefallen, vielleicht liegt das auch nur an dem unglaublichen eingängigen Titelsong: „Ahead of The Century“ stammt von der kanadischen Band The Tragically Hip und wurde bereits 1996 auf dem Album “Trouble at the Henhouse” veröffentlicht. Der melodiöse Indie-Rock passt perfekt zu der liebenswerte Serie.

Anne durchläuft bereits in der ersten Staffel einige Stadien des Erwachsenwerdens. Die Serie ist also eine klassische Coming of Age Story, aber auch die beiden Adoptiveltern kommen in „Anne with an E“ zum Zuge und ihre Lebensgeschichte wird gleichberechtigt neben Annes in Rückblicken angedeutet, je weiter die Serie fortschreitet. Man mag da bei der Neuinterpretation durchaus jene neue Freiheit spüren, die auch Anne empfindet nachdem sie das Waisenhaus und die bisherigen schrecklichen Pflegefamilien hinter sich gelassen hat.

Der Cliffhanger am Ende der ersten Staffel wäre aber nicht nötig gewesen. Und die offiziell sieben Folgen sind eigentlich acht in 45minütiger Länge; die Pilot-Episode ist nur spielfilmlang ausgefallen. Die noch folgenden Staffeln sind ohnehin länger, Fans dürfen sich freuen.

So kann nur diejenige das Privileg zur Schule gehen zu dürfen wirklich schätzen, der es bislang aufgrund der harten Arbeit nicht vergönnt war, etwas zu lernen. Aber auch hier eckt die überschwängliche Anne anfangs an und muss sich bei den Kindern erst beweisen.

An dieser Stelle allzu sehr auf die einzelnen Abenteuer von Anne und den Cuthberts einzugehen, verdirbt nur den Spaß. Und den vermittelt die liebevoll ungesetzte Serie mit stimmigen, unaufdringlichen Zeit- und Lokalkolorit. Gelegentlich möchte man meinen, die Macher hätte die raue kanadische Landschaft ruhig öfter ins Bild setzen können, aber dann besinnt man sich wieder, dass „Anne with an E“ ja auch für eine jüngere Zielgruppe gedacht ist.

Es scheint so, als wäre der Sektor für TV-Serien unersättlich geworden. Auch populäre, oftmals verfilmte Klassiker sind nicht vor Neuinterpretationen gefeit. Die kanadische Produktion „Anne with an „E“ basiert auf dem Kinderbuch-Klassiker „Anne auf Green Gables“ und ist rundheraus sehenswert und eine gehörige Überraschung. Puristen sollten sich vielleicht auf einen etwas ernsteren, abgründigeren Ansatz einstellen, der aber nicht ändert, dass die Serie auch für ein junges Publikum geeignet bleibt.

Serien-Wertung 8 out of 10 stars (8 / 10)

Anne With An „E“ – Neues aus Green Gables –Staffel 1
OT: Anne With An „E“
Genre: TV-Serie, Drama, Familie
Länge: 315 Minuten (7 Folgen), CDN, 2017
Idee: Moira Walley-Beckett
Vorlage: Lucy Maud Montgomery „Anne of Green Gables“ (1908)
Regie: Niki Caro, Helen Shaver et al.
Darsteller: Amybeth McNulty, R.H.Thomson, Geraldine James
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: Justbridge Entertainment,
DVD- & BD-VÖ: 03.04.2020

Offizielle Webseite bei Netflix
Anne auf Green Gables beim Loewe Verlag
Anne with an E bei justbridge entertainment