Andreas & Isa Cochet: Argentina

Ein bisschen überraschend ist es schon, einen neuen, tatsächlich aktuellen Comic-Band von Andreas in den Händen zu halten. Schließlich muss der 1950 in Weißenfels in der ehemaligen DDR geborene Comic-Künstler niemandem mehr etwas beweisen. Zuletzt erschien in Frankreich der 2017 der 20. Band des „Capricorn“-Zyklus. Mit „Argentina“ machen sich Andreas und seine langjährige Koloristin Isa Cochet auf zu ganz anderen Ufern: Eine Politikertochter wird entführt und taucht am anderen Ende der Welt wieder auf. In dem packenden Psycho-Thriller ist kaum etwas wie es scheint, aber das kennen Andreas-Fans ja längst.

Das Mädchen Silver ist spurlos verschwunden. Tochter des Politikers Yvon D‘Alayrac findet sich eines Morgens in einer verlassenen Hütte auf dem Land wieder. Unbedrängt macht sie sich auf den Weg zurück in die Zivilisation.

Währenddessen geht ihr Vater von einer Entführung aus und mobilisiert nicht nur seine Helfer, sondern auch die Polizei angeführt von der Ermittlerin Delphin Coreau. Dann taucht Silver nach knapp zwei Tagen aus dem Nichts wieder auf und niemand kann sich einen Reim darauf machen. Vor allem behauptet das Mädchen in Argentinien gewesen zu sein.

Silvers Mutter Amelie liegt seit deren Geburt im Koma. Im Sanatorium nahe des Hauses der D’Alayracs wird sie von Dr. Treda behandelt. Direkt nach ihrem Auftauchen besucht Silver ihre Mutter und wird dabei von einem hünenhaften Unbekannten angegriffen. Yvon D’Alayrac erhöht die Polizeipräsenz. Polizistin Coreau spürt, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.

„Argentina“ ist eine erstaunliche Geschichte, die Leser:innen nicht unbedingt beim ersten Durchlauf erfassen. Zu mysteriös bleiben die unterschiedlichen Elemente, die Andreas („Cromwell Stone“, „Capricorn“) in der abgeschlossenen Story verknüpft. Mit seiner Vorliebe für vertrackte Geschichten, die gekonnt mit Realitäten, Fantasien und Psychosen spielen, hat sich der Autor ebenso einen Ruf erarbeitet wie der Zeichner mit seinen waghalsigen Perspektiven und Szenarien. So bleiben viele Deutungsmöglichkeiten und lange bleibt unklar, was nun Realität und was Fantasie ist. Und auch: Was ist Rausch, was Psychose, was Experiment?

Vielleicht ist der visuelle Stil in „Argentina“ das eigentlich Furiose. Anders als in vielen Arbeiten von Andreas („Rork“, „Cyrrus – Mil“) sind die Charaktere und Figuren in „Argentina“ sehr reduziert. Auch die Räume wirken zweidimensional und flächig. Das Album verzichtet auf Schraffuren und Schattierungen und räumliche Tiefenwirkungen. Was bleibt sind monochrome Flächen, die hintereinanderliegend wirken und so für erstaunliche Perspektiven sorgen. Das ist bewusst so gestaltet und sorgt für erstaunliche Perspektiven. Und es sorgt für erstaunliche Farbwirkungen.

Gelegentlich erinnert mich die Optik in „Argentina“ an die leicht kubistischen Szenarien des spanischen Zeichners und Comicautors Daniel Torres, wie etwa in „Opium“ (1982). Bisweilen wirken die Panels abstrakt oder wie naive Malerei und zitieren so auch eine gewisse Comic-Schule. Aber das sind Spitzfindigkeiten.

Das grafische Erzählen in „Argentina“ ist meisterlich. Gerade die Auftaktseiten, in denen die taghellen Landschaften, die Silver durchquert, mit den Ermittlungstätigkeiten in verdunkelten Räumen nebeneinandergestellt werden sind wirklich stark und wandeln sich von einer parallel laufenden jeweils strengen Bildführung immer weiter in eine offene, fast experimentelle Seitengestaltung.

Da werden nicht nur die Panels weit, sondern auch die Räume geöffnet, um den Fantasien der Leser:innen freien Lauf zu lassen. Auch Isa Cochets Farbgebung entwickelt sich im Verlauf der Geschichte immer weiter, treibt fast ein Eigenleben und ist weit mehr als ein buntes Accessoire der Zeichnungen.

Von einem milden Alterswerk des großen Comic-Künstlers Andreas (Martens) ist „Argentina“ so weit entfernt wie die Pampas von Paris. In seinem aktuellen Thriller schwingt sich Andreas zusammen mit der kongenialen Koloristen Isa Cochet auf zu einem rätselhaften, mysteriösen und ausgefuchsten Höhenflug auf. Wie sich das für Comic-Kunst gehört vermag „Argentina“ auch stilistisch zu verstören.

Comic-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Andreas & Isa Cochet: Argentina
OT: Argentina, Futuropolis, 2019
Genre: Comic, Thriller
Autor & Zeichner: Andreas (Martens)
Farben: Isa Cochet
Übersetzung: Resl Rebiersch,
Verlag: Schreiber & Leser, 96 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-96582-029-6
VÖ: 04.08.2020

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