Cyrrus – Mil: Sensationelle Ausgrabung

Lange Zeit waren die Werke des deutschen Comic-Künstlers Andreas Martens hierzulande kaum präsent. Seit einigen Jahren hat sich der Verlag Schreiber & Leser die Veröffentlichung von Andreas‘ Gesamtwerk auf die Verlagsfahnen geschrieben. Das Frühwerk „Cyrrus – Mil“ beginnt als klassische Abenteuer-Fantastik entschwindet aber schnell in rätselhafte, philosophische Tiefen. Meines Wissens ist zumindest die „Mil“-Geschichte hier als deutsche Erstausgabe veröffentlicht. Das Artwork ist allerdings zeitlos frisch wie eh und je.

„Cyrrus – Mil“ enthält zwei in sich abgeschlossene Geschichten, die aber inhaltlich zusammenhängen. Nach Andreas eigener Aussage war ursprünglich eine Trilogie geplant, die dann schlicht aus dem Grund nicht weitergeführt wurde, weil der Künstler den Verlag wechselte. So bleiben zwei atemberaubende klassische Fantastik-Geschichten, die mysteriös sind und bleiben und in grafischer Hinsicht Maßstäbe setzten und setzen.

Mit der Gesamtausgabe von „Cyrrus – Mil“, entstanden 1984 und 1987, folgt nun also ein weiterer Meilenstein der fantastischen Kunst des Szenaristen und Illustrators Andreas, der inzwischen zu den Altmeistern der europäischen Comic-Szene gelten muss.Über 96 Seiten, was dem Umfang zweier typischer Comic-Alben im franco-belgischer Erzähl-Tradition entspricht, entfaltet Andreas eine ganz eigene Welt und macht sich gar nicht erst die Mühe, die Rätsel vollends zu entschlüsseln.

Cyrrus

In „Cyrrus“ hat der erfolgreiche Archäologe Cyrrus Fox einen antiken Tempel entdeckt, den er zu erforschen gedenkt. Doch das Vorhaben zieht sich und Cyrrus hat eine Reihe geheimnisvoller Begegnungen. Zudem scheint der Forscher Zeitreisen zu unternehmen und es scheint eine Verbindung zu einem jungen Mann im Jahr 1924 zu bestehen.

In „Mil“ spielt die Handlung einige Jahre später als in „Cyrrus“ und die Geschichte wird von einem beobachtenden Protagonisten erzählt, den die Leser bereits aus „Cyrrus“ kennen. Doch wieder spielt der Tempel eine zentrale Rolle und der Erzähler begibt sich auf eine mystische Zeitreise zu den Grundsteinen des mysteriösen Bauwerks und zu den Anfängen der Menschheit.

Eine stilbildende Phase

Um die Mitte der 1980er Jahre hatte der aus Weißenfels in der ehemaligen DDR stammende Andreas Mertens seine erste kreative Hochphase. Zu dieser Zeit entwickelte er nicht nur seinen eigenen unverkennbaren grafischen Stil, sondern begann auch in kurzer Folge viele Serien und Werke, die heute maßgeblich für sein Werk sind. „Cromwell Stone“, „Rork“ und „Cyrrus“ wurden alle 1984 veröffentlicht. Unklar bleibt, wie lange der Künstler zuvor schon an den Titeln gearbeitet hat.

„Cyrrus“ lebt wie etwa auch „Cromwell Stone“ von einer sehr grafischen Art des Erzählens. Das sollte man für einen Comic voraussetzen, aber es gehört zu einer seltenen Begabung, die Bilder und Seiten derart erzählend zu gestalten, dass die Geschichten mit einem Minimum an Textrahmen und Dialogen auskommen. Bereits im ersten Bild von „Cyrrus“ sind wesentliche Elemente enthalten.

Neue Perspektiven im Comic

Der Zeitung lesende Protagonist in seinem Salon, farblich in Sepiatönen, also quasi farblos gehalten, und ein Tisch mit farblicher Intarsie, die ein vertracktes Labyrinth andeutet und ein seltsames Symbol zeigt. Die Perspektive dieses „Establishing Shots“ ist ungewöhnlich und beobachtend. Der Leser scheint an der Raumdecke zu schweben. Es schließen sich in der Folge sehr variabel gestaltete Panels und Seiten an, in denen sich sowohl die Farbigkeit als auch Perspektive und Dynamik in meisterhafter Weise zu einem grafischen sog entwickeln, der die Geschichte beinahe nebensächlich macht.

Ein erzählerischer Kniff, die Leser bei der Stange zu halten, ist das offene Rätsel. In der Phantastik ist es von je her ein gängiges Mittel der Spannung, ein Rätsel anzudeuten, ohne weiter darauf einzugehen, seltsame Ereignisse aneinander zu reihen, bis sich daraus ein Muster ergibt und sich langsam Orientierung einstellt.

Vom Staub zum Geist

Andreas, dem man nachsagt, erzählerisch von H. P.Lovecraft beeinflusst zu sein, versteht es meisterhaft, Andeutungen einzustreuen und dann allein aufgrund von geschickter Bildkomposition und -folge Verwirrung zu inszenieren. Dabei verweben sich zwei Erzählebenen, die durch ihre Farbigkeit beziehungsweise holzschnittartige Farblosigkeit unterschieden sind. Mit fortschreitender Handlung werden auch die Bilder kühner, steigern sich in ihrer Dinglichkeit, ihrer Vielschichtigkeit und in der labyrinthischen Wortlosigkeit zu einem furiosen Finale.

Mil

Etwa drei Jahre Später veröffentlicht Andreas dann den zweiten Teil dessen, was als Trilogie geplant war. „Mil“ erscheint 1987 und setzt von Beginn an auf eine ganz andere zeichnerische und grafische Stilistik als „Cyrrus“. Die schwarz-weiße erzählerische Gegenwart gestaltet sich bereits magisch und mysteriös, wenn die Erde sich öffnet und dem (zeit-)reisenden Erzähler den Zugang zum Tempel ermöglicht.

Der Leser glaubt nun zu wissen, womit er es zu tun hat. Schließlich kennt er den Erzähler und auch den Tempel bereits, aber dann entspannt sich aus dem düsteren, beinahe Horror-Artigen Szenario ein Ausbruch, der gleichsam Flucht wie Erkenntnis ist.

Strich-Männchen

Was dann folgt, ist eine „in der Comic-Geschichte einmalige 24-seitige Erfindung einer eigenen Bildsprache“ (so das Schreiber & Leser Magazin). Der Zeitreisende findet sich vor der Gründung des Tempels am Anbeginn einer Kultur wieder. Eine Kultur, die weder über Sprache noch über Bilder verfügt. Das erinnert sicher nicht nur mich an die Auftakt-Sequenz von Stanley Kubriks „2001 –Odyssee“ im Weltraum, in der Affen um einen außerirdischen Monolithen tanzen.

Andreas gestaltet diese großartige frühgeschichtliche anthropologische Studie formal sehr streng und rhythmisch, genehmigt sich aber beim Paneling dann doch immer leichte Abweichungen, die zu erstaunlicher Dynamik führen. Wenn der Aufbau einer Comic-Seite eher statisch und ruhig wirkt, so liegt die Blickführung viel stärker auf dem Geschehen selbst, das dargestellt wird. Dabei braucht es kaum eine Sprechblase und die erdig gehaltenen Farbtöne des wüstenartigen Szenarios sind beinahe ungewöhnlich für Andreas und stehen im starken Kontrast zu der Grafik der vorangegangenen Seiten.

Während „Cyrrus“ schon herausragende Phantastik mit großartiger Optik darstellt, ist es die atemberaubende Beobachtung vorzeitlicher Menschwerdung im „Mil“, die aus einem Comic-Album ein zeitloses Kunstwerk macht. So zeigt diese Gesamtausgabe weit mehr als einen frühen Schritt des Andreas zur „europäischen Comiclegende“*

Comic-Wertung: 8.5 out of 10 stars (8,5 / 10)

Cyrrus – Mil: Gesamtausgabe
OT: Cyrrus (1984), Mil (1987)
Szenario und Zeichnungen: Andreas
Übersetzung: Resel Rebiersch
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 96 Seiten
ISBN: 978-3-96582-008-1
VÖ: 03.03.2020

Mehr über Andreas: Dossier-Andreas

französischer Wikipedia-Eintrag

Cyrrus – Mil“ bei Schreiber & Leser

*(Titan Comics anlässlich der Veröffentlichung von Cromwell Stone 2019).