Die verlorene Tochter: Dein Bier und meine Erinnerung

Man müsste die ZDF-Serie „die verlorene Tochter“ wohl zu den Mystery-Serien rechnen: Ein Mädchen verschwindet spurlos und nach einem Jahrzehnt kehrt dieselbe junge Frau ohne Erinnerung zurück. Überraschend ist an der Mini-Serie, die hochkarätig und prominent besetzt ist, vor allem ihr Erzählschwerpunkt. Vordergründig geht es weniger um das damalige Geschehen als vielmehr darum, die Brüche und Risse zu zeigen, die das Verschwinden hinterlassen hat. Edel Motion hat das mehrteilige Thriller-Drama „Die verlorenen Tochter“ im Februar für das Home-Entertainment veröffentlicht.

Vor zehn Jahren verschwindet Isa von Gems (Henriette Confurius) nach einem Schulfest spurlos in der lauen Sommernacht. Der damalige Dorfpolizist Peter Wolff (Götz Schubert) war eigentlich auf dem Sprung zum Landeskriminalamt. Wolff, der ein Verhältnis mit Isas Mutter hat, ist über der Suche zum Alkoholiker geworden, hat sein Familienglück ebenso zerstört wie seine Karriere und ist nun im Wachdienst der Brauerei Gemserbräu beschäftigt. Während Brauerei-Geschäftsführer Heinrich von Gems versucht, die kleine Brauerei vor dem Konkurs zu retten und die Produktion auf Nachhaltigkeit und erneuerbare Energien umzustellen, will Firmenerbe Philip den Familienbetrieb am liebsten an einen amerikanischen Brauereikonzern verkaufen.

Und plötzlich und unerwartet taucht eine mysteriöse junge Frau in dem hessischen Dorf am See auf, schaut sich heimlich um und wäre vielleicht wieder abgehauen, wenn sie nicht fast bei einem Braund in Wolffs Gartenlaube umgekommen wären. Jetzt behauptet die Frau, sie wäre Isa von Gems. Das verwundert insofern, als dass die Frau keine Erinnerung an ihre Vergangenheit hat und in den letzten Jahren in einem Dorf in Südfrankreich gelebt hat. Warum sie überhaupt wieder hier auftaucht und warum ausgerechnet jetzt, wird erst im Verlauf der Serie klar. Fakt ist, dass es der Familie von Gems überhaupt nicht in den Kram passt, dass die verlorene Tochter nun wieder vor der Tür steht. Und Isas Rückkehr bringt das ganze Dorf in Aufruhr.

Während die über dem Verlust und der Schuld gebrochenen Mutter Sigrid (Claudia Michelsen) sofort überzeugt ist, ihre Tochter sei zurückgekehrt, weigert sich ihr Ehemann Heinrich (Christian Berkel) zunächst standhaft, an diese Auferstehung zu glauben und besteht auf einem DNA-Test. Heinrichs Mutter, die Patriarchin Lore von Gems (Hildegard Schmal) nimmt die überraschende Ankunft ihrer Enkelin, die einst als Brauerei-Erbin vorgesehen war, erstaunlich ungerührt zur Kenntnis. Isas Bruder Philip (Rick Okon) und seine hochschwangere Frau sehen vor allem eine Rivalin und Isas damaliger Freund Robert Wolff (Max von der Groeben) hat inzwischen mit Isas bester Freundin eine Familie gegründet. Mit seinem Vater hat er sich ebenso überworden wie sein Bruder.

Damals war‘s: Zu Beginn einer jeden Folge nehmen Autor Christian Jeltsch und Regisseur Kai Wessel die Geschehnisse der Sommernacht wieder auf und lassen die Zuschauer häppchenweise teilhaben an den vertrackten Entwicklungen, die zu Isas verschwinden gehören. Die Brauerei-Tochter war zu dem Fest gegangen, obwohl ihr Großvater im Sterben lag – und trifft dort fast ihre gesamte Familie. Anschließend wird dann das filmische Jetzt gezeigt und die Probleme und Zerrüttungen in Familie und Dorf, die zwar schon damals vorhanden waren, aber mit dem tragischen Verschwinden Isas erst richtig ausbrachen, werden genüsslich seziert und ausgebreitet.

Es geht den Serienmachern dabei weniger um Spannung im herkömmlichen Thriller-Sinne und auch nicht darum, eine Rache-Story zu inszenieren. Stattdessen wird das überschaubare soziale Gefüge eines Dorfes gezeigt und für das das Leben eben weiterging – oder auch nicht. Ein Dorf, das in fast feudaler Abhängigkeit zur der übermächtigen Brauerei Gemserbräu festhängt, wo jeder mit jedem ein Hühnchen zu rupfen hat und jeder eine Leiche im Keller – oder im nahegelegenen Stausee. Ein wenig erinnert die Ausgangssituation das an den Mystery-Klassiker „Twin Peaks“ mit seiner dörflichen Mördersuche und dem übermächtigen Sägewerk, aber David Lynchs Klasse wird in der ZDF-Serie nicht erreicht, dazu schimmert zu oft das Banale und Soap Opera-hafte durch, das vielmehr an die Brauereiserie „Das Erbe der Guldenburgs“ (1987)erinnert, in der es tatsächlich auch eine Folge namens „Die verlorene Tochter“ gab.

Vom erzählerischen Ansatz ist auch eine gewisse Parallele zu den beiden Staffeln der britischen Thriller-Serie „The Missing“ zu erkennen, das neben die verzweifelte Suchen nach vermissten Kindern auch die psychologischen Probleme der Eltern und Ermittler aufzeigt, allerdings mit mehr konventioneller Spannung.

Regisseur Kai Wessel inszeniert „Die verlorene Tochter“ mit routinierter („Spreewaldkrimi“, „Zeit der Helden“) und auch kinoerfolgreicher Hand („Nebel im August“) und die Darsteller geben ihren Rollen viel Glaubhaftigkeit mit auf den Weg. Allerdings ist es Autor Jeltsch („Komissarin Lukas“, „Unter Gaunern“ „Tatort“), vor allem um dramatische Breite zu tun. Will sagen, der Versuch wirklich jede der auftretenden Figuren mit dem damaligen Verschwinden in Verbindung zu bringen wirkt auch ein wenig angestrengt.

Dabei gibt es durchaus auch gelungene Twists; wie etwa den, die zurückgekehrte Isa mit ihrem damaligen Teenager-Ich reden zu lassen. Bisweilen überhebt sich das Drama dann doch wieder ins Bierselige, und vor allem Henriette Confurius sorgt mit ihrem doppeldeutigen, zurückgenommenen und souveränen Spiel der beiden Isas dafür, dass man als Zuschauer am Ball bleibt und der Bier-Seidel nicht vollends ins Brauwasser fällt.

Nicht jedes Fass, das dieses mysteriöse Brauerei-Drama aufmacht, perlt auch im Abgang. Bisweilen wirkt das Gemserbräu etwas abgestanden, aber auf die Tradition kann man letztlich doch b(r)auen. Das sorgt letztlich doch für schmackhaftes Feierabend-Bier.

Serien-Wertung 6 out of 10 stars (6 / 10)

Die verlorene Tochter
Genre: Mini-Serie, Drama, Thriller
Länge. 269 Minuten (ca. 6 x 45 Min.), D, 2020,
Idee & Drehbuch: Christian Jeltsch
Regie: Kai Wessels
Darsteller: Henritette Confurius, Claudia Michelsen, Götz Schubert, Max von der Groeben, Christian Berkel
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Edel Motion, ZDF Enterprises
DVD-VÖ: 13.02-2020

Die verlorene Tochter bei ZDF.de