Die Nachrichten zeigen uns immer wieder Gewaltausbrüche, die das Zusammenleben einer Gesellschaft zerrütten. In den letzten Jahren sind das vornehmlich terroristische Taten, aber auch so genannte Amokläufe führen immer wieder zu erheblichen unbeteiligten Opfern. Was in den Nachrichten oft abstrakte Information bleibt, sorgt dennoch für einen Verlust des Sicherheitsgefühls in einer Gemeinschaft. Kann man sich je daran gewöhnen? Kann man damit leben? Das großartige britische Drama „Southcliffe“, das im Februar bei Polyband erschienen ist, gibt bedrückende Einblicke in eine verstörte Kleinstadt.
Aus dem Off berichtet der Journalist David Whitehead (Rory Kinnear) von einer Tragödie in der Kleinstadt Southcliffe in den Marschlanden von Kent. Dort hat ein Amokläufer etliche Menschen mit Gewehrschüssen getötet. Aber schon während Whitehead auch im Bild erscheint beginnt die Irritation, denn der Mann stellt vor laufender Kamera seltsame Fragen. Dann erst erschient in der BBC-Miniserie „Southcliffe“ der Vorspann und die Szene wechselt in einen nebelverhangenen Morgen an den Stadtrand von Southcliffe, wo ein alte Frau unerwartet angeschossen wird, während der Zuschauer von hinten eine schemenhafte Gestalt herankommen sieht.
„ich kenne diese Leute. Ich bin einer von ihnen.“
Drehbuchautor Toni Grisoni verzichtet in seinem vielschichtigen und düsteren Drama auf eine lineare und chronologische Erzählstruktur. Aber nach diesen beiden Auftaktszenen bleibt die Handlung zunächst an dem Handwerker und Militärfan Stephen Morten (Sean Harris) hängen, zeitlich einige Tage vor dem Amoklauf, und etabliert im Lauf der ersten Folge „Hollow Shore“ die anderen Hauptfiguren und die Stadtbevölkerung des kleinen Marktfleckens Southcliffe.
Mortens harter Alltag ist geprägt von schlechtbezahlten Jobs, einer pflegebedürftigen, bettlägerigen Mutter, den Erinnerungen an die Militärzeit und den immer noch durchexerzierten Marschübungen des wortkargen bärtigen Mannes. Als eine Gruppe von Afghanistan-Heimkehrern in der Stadt willkommen geheißen wird, freundet sich Morten mit dem jungen Chris Cooper (Joe Dempsie), dessen Frau Louise (Hayley Squires) nicht so ganz damit klar kommt, dass Chris die Folgen und Verluste des Kriegseinsatzes noch verarbeiten muss.
Claire Salter (Shirley Henderson), die Morten gelegentlich bei der Pflege seiner Mutter unterstützt, hat ganz andere Sorgen, ihre fast erwachsene Tochter Anna will nach Indien gehen und ihr Mann Andrew (Eddie Marsan) möchte ein weiteres Kind. Auch Reporter Whitehead, der aus Southcliffe stammt, hat so seine Päckchen zu tragen und ist alles andere als begeistert, als ihn seine Redakteurin zurück in seinen Heimatort schickt.
„Er hat kapituliert. Vor seinem Scheißleben kapituliert.“
Während die erste Folge vor allem die Stimmung und die Geschehnisse vor dem erschütternden Amoklauf zeigt, befasst sich die zweite Episode „Light Falls“ mit der Tat selbst und den Lücken, die sie in die kleine Stadtgemeinschaft reißt. Das sind ganz persönliche Draman, die immer wieder von einer Beobachtung des Mediengeschehens in Gestalt von Reporter Whitehead unterbrochen und ergänzt werden.
Während Folge drei, „Sorrow‘s Child“, sich mehr mit dem Leid und dem Verlust beschäftigt, wird hier auch vornehmlich Whiteheads Kindheit geschildert und die Episode kumuliert in eben jenem anfänglichen angerissenen TV-Live-Bericht. Abschließend werden die Ereignisse ein Jahr später, an Allerseelen 2012 noch einmal aufgerollt, als David Whitehead in der Folge „All Souls“ auf eigene Faust beschließt, noch einmal nach Southcliffe zu fahren, wo er sich durch seine Berichterstattung nicht eben beliebt gemacht hat.
Es ist schon ein ganz schon schweres Brett, das dem Zuschauer hier geliefert wird. Das Thema an sich ist schwer zu fassen oder fiktional aufzubereiten. Daneben kommen aber auch andre aktuelle Gesellschaftsprobleme zum Tragen, selbst wenn sie nur Nebenschauplätze sind. Das sorgt für bittere Aktualität der Mini-Serie. Zudem ist die Stimmung mit der nebligen Landschaft, der schroffen Küstenstadt und den in gedämpften, kalten Tönen gehaltenen Bildern eher trostlos als düster. Dazu aber kommen auch noch all die sorgsam und auch tiefgründig ausgestalteten Charaktere und ihre unglücklichen Biografien und tragischen Probleme. Es sind nicht nur die grandios aufspielenden Schauspieler, die dafür sorgen, dass die Serie unter der Regie von Sean Durkin ebenso schillernd wie faszinierend bleibt, sondern vor allem ein wirklich fulminantes Drehbuch.
„in commemoratione omnium fidelium defunctorum“
Toni Grisoni, der mit Regisseur Terry Gilliam nicht nur Hunter S. Thompsons Roman „Fear and Loathing in Las Vegas“ sondern auch „Tideland“ auf die Leinwand brachte, ist ein Meister seines Faches, was er auch mit der hochgelobten Adaption der „Yorkshire Killer“-Reihe von Krimiautor David Peace bewiesen hat. Auch diese dreht sich in mehreren Runden und mit unterschiedlichen Perspektiven um ein bestimmtes Ereignis. In „Southcliffe“ freilich muss der Zuschauer anfangs ein wenig aufmerksam bleiben, um die unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen auseinanderzuhalten, denn sie werden nicht Blockbuster-üblich mit Einblendungen angekündigt, sondern erschließen sich sozusagen über die Mental Map der Protagonisten. Immer wieder sind es Erinnerungen, die eingeblendet werden, immer wieder auch zwischengeschoben auch einfach Erzählsprünge, die aber nachvollziehbar bleiben, weil sie der inneren Logik der Erzählung folgen und auch immer einen Zusammenhang zur vorangegangenen Szene herstellen.Dabei liefert die Geschcihte keine einfachen Erklärungen, ja eigentlich gar keine Erklärungen, sondern entfaltet und entwirrt ein geflecht von sozialen Zusammenhängen. Das ist beizeiten recht hart mitanzusehen.
Mit Sean Harris („Macbeth“), der für seinen eindringlich gespielten Stephen Morten einen BAFTA-Award abräumte, einer fiebrig-verwirrten Shirley Henderson (Happy Valley Staffel 2), und etlichen andren bekannten britischen Darstellern ist „Southcliffe“ zudem hochkarätig und äußerst sehenswert besetzt, so dann der deutschen Zuschauer es durchaus in Kauf nehmen kann, dass die herausragende BBC-Serie nicht mit einer Synchronversion ausgestattet ist. Wer sich erst einmal an die Untertitel gewöhnt hat, wird vielleicht auf den Geschmack kommen und sich ausländische Produktionen häufiger im Original anschauen. Auch das kann durchaus ein Erkenntnisgewinn sein.
Die BBC-Serie „Southcliffe“ die sich um einen Amoklauf in einer Kleinstadt dreht, ist thematisch und filmisch recht harte Kost, aber die Aufbereitung ist alles andre als Reißerisch. Stattdessen ist „Southcliffe“ ein großartiges, hochemotionales Drama, das mit viel Tiefgang und überraschender Vielschichtigkeit versucht, sich dem Unfassbaren anzunähern.
Serien-Wertung: (8,5 / 10)
Southcliffe
OT: Southcliffe
Genre: Drama, TV-Serie
Länge: 180 Minuten (4 x 45), GB, 2013, OmU
Regie: Sean Durkin
Idee und Drehbuch: Tony Grisoni
Darsteller: Shirley Henderson, Hayley Squires, Eddie Marsan, Rory Kinnear, Sean Harris,
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Polyband, BBC
DVD-VÖ: 24.02.2017