Jo Walton: Inspector Carmichael 1 – Die Stunde der Rotkehlchen

Walton-Carmichael_1-vorschauHierzulande ist die aus Wales stammende Schriftstellerin Jo Walton kaum bekannt. Das sollte sich bald ändern, denn mit „Die Stunde der Rotkehlchen“ hat der Golkonda-Verlag nun den ersten, in sich abgeschlossenen Fall des Inspektor Carmichael aufgelegt. Das Besondere daran: Carmichael und sein Sergeant Royston ermitteln in einer Welt, die sich ein wenig von unserer unterscheidet. In Waltons Alternativwelt hat Großbritannien mit Hitler Frieden geschlossen und neun Jahre später wird eben jener Mann getötet, der für die Friedensverhandlungen verantwortlich war. „Die Stunde des Rotkehlchens“ entführt die Leser in eine kriminalistische Erzählung die irgendwo zwischen „Downton Abbey“ und Kriminalromanen von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers angesiedelt ist.

1949 herrscht in Großbritannien bereits seit neun Jahren Frieden mit Hitlers Deutschem Reich. Während dessen Truppen noch immer im Krieg mit Russland sind, sind weite Teile Europas unter Nazi-Kontrolle. Ganz besonders leidet die verfolgte und unterdrückte jüdische Bevölkerung. Und auch in England, das sich auch politisch auf seine Insellage zurückgezogen hat, gibt es eine gehörige Portion Antisemitismus. Den bekommt auch Lucy Kahn seit einiger Zeit zu spüren. Denn der Sprößling aus der Oberschicht hat es gewagt, den jüdischen Geschäftsmann David Kahn zu heiraten. Lord und Lady Eversley, Lucys Eltern, sind die Herren des Landsitzes Farthing nach dem „Farthing-Kreis“ benannt wurde, eine einflussreiche Clique von Politikern, zu denen auch Sir Thirkie zählt, der den Frieden mit Hitler ausgehandelt hat.

An einem Wochenende versammelt Lady Eversley eine Gesellschaft und lädt dazu auch ihre Tochter Lucy und deren Gatten David. Doch das gesellschaftliche Ereignis endet mit einer Leiche. James Thirkie wird mit einem Dolch und einem Judenstern in der Brust aufgefunden und der Verdacht fällt sofort auch Lucys Ehemann. Scotland Yard schickt Inspector Carmichael, doch der läuft bei seinen Ermittlungen ein ums andere Mal gegen die unsichtbaren Türen, die die Oberschicht vor der profanen Welt schützt. Carmichael verstrickt sich in einem Netz aus Lügen und Intrigen.

„Mir erschließt sich nur eine einzig Verbindung dieser Theorie zu Nylonstrümpfen: die Dehnbarkeit in alle Richtungen“ (S. 186)

Autorin Jo Walton legte – wenn man so will – mit „Farthing“v (so der Originaltitel, 2006) ihren ersten Science-Fiction Roman hin, nachdem sie bis dato für ihre Fantasy-Werke bekannt und ausgezeichnet wurde. Dabei hat der Roman allerdings deutlich mehr Überschneidungen mit dem klassischen Kriminalgenre als mit Utopien. Und die Mischung macht nicht nur in dieser Hinsicht den Reiz dieses Krimis aus.

Walton-Carmichael_2_408Alternative Geschichtsverläufe fiktional aufzubereiten ist an sich schon eine spannende Sache. Ausgehend von der Frage „Was wäre wenn?“ entfalten sich ganz andere Gesellschaften, die aber auch immer einen Blick auf die Gegenwart werfen, wie das bei guter Science Fiction auch immer dazu gehört. Robert Harris Thriller-Bestseller „Vaterland“ (OT: Fatherland, 1992) und auch Philip K. Dicks Klassiker „Das Orakel vom Berge“ (OT: The Man in the High Castle“, 1962) sind lesenswerte Beispiele für solche Alternativwelten. Zudem haben beiden Romane gemeinsam, dass das dritte Reich den zweiten Weltkrieg gewonnen hat.

Ganz so weit dreht die walisische Autorin Jo Walton nicht an der historischen Schraube, weshalb die Trilogie im Original auch unter dem Titel „The Small Change Series“ firmiert. Der Krieg ist noch immer im Gange und Hitler versucht Kontinentaleuropa total zu unterjochen. Gerade die  Kämpfe an der Ostfront halten im Jahr 1949, in dem „Die Stunde der Rotkehlchen“ spielt, unvermindert an. Allein, England hat mit dem Reich schon lange seinen Frieden gemacht und verhält sich mit steifer Oberlippe so, als würde das ehemalige britische Empire diese Unterschichten-Keilereien nichts angehen. Daher finden sich Leser sehr schnell in der adeligen Welt von Farthing zurecht.

„Einfach hoffnungslos das Ganze, nicht wahr? Ebenso wie ich.“ (S. 26)

Walton-Carmichael_3_408Erzählerisch wechseln sich die Perspektive des ermittelnden Beamten und der in der Ich-Form geschriebene Bericht von Lucy Kahn ab. Während Carmichaels Schilderungen eher rational sind und einer kriminalistischen Ermittlungslogik folgen, sorgt Lucys persönliche Sichtweise für die Stimmung und das Ambiente. Und der etwas naive Bericht der jungen Frau erinnert in seinem Tonfall durchaus ein bisschen an die erfolgreiche TV-Serie „Downton Abbey“ (2010), die allerdings erst später auf Sendung ging. Es gibt schon Parallelen zwischen Walton Lucy und der jungen Sybel Crawley (gespielt von Jessica Brown Finnlay), die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden ist und sich in den sozialistischen Chauffeur verliebt. Aber auch „Upstairs, Downstairs“ (1971, deutsch: Das Haus am Eaton Place“) verströmt eine ähnliche Stimmung.

Bei „Die Stunde des Rotkehlchens“ standen definitiv auch die kriminalistischen Werke von Dorothy L. Sayers Pate. Daraus macht Jo Walton auch gar keinen Hehl und benennt ihren Inspector auch gleich nach dem Schauspieler Ian Carmichel (1920-2010), der in den Verfilmungen von Sayers Krimis ein ums andere Mal die Rolle des adeligen Amateurdetektivs Lord Peter Whimsey übernahm. Kriminalistisch ist „Die Stunde des Rotkehlchens“ vor allem spannend, weil vieles lange im Unklaren bleibt. Die Ermittlungen selbst sind recht unspektakulär und von kleinen Erfolgsschritten geprägt.  Action und Tempo sucht man in „Farthing“ vergeblich. Doch das ist gewollt und hat auch seinen ganz speziellen Charme. Dabei zählt der Roman zu der vor allem im englischsprachigen Raum gebräuchlichen  Untergattung des „cozy mystery“, worin Sex und Gewalt im Grunde ausgespart werden und nur als verniedlichende Verharmlosungen benannt werden.

Mit „Die Stunde der Rotkehlchen“ legt der Golkonda Verlag einen lesenswerten, in vielen Aspekten interessanten Krimi vor, der einerseits ganz in der Tradition englischer Klassiker steht, dieser aber auch etwas Neues hinzuzufügen weiß. Romantische Krimifreunde sollten sich von der alternativen Welt nicht abschrecken lassen und „Die Stunde der Rotkehlchen“ unbedingt lesen.

Roman-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Walton-Carmichael_1_408Jo-Walton: Inspector Carmichel 1 – Die Stunde der Rotkehlchen
OT: Farthing, 2006
Genre: Krimi, Sci-Fi,

Autorin: Jo Walton
Übersetzung: Nora Lachmann
ISBN: 978-3-944720-41-8 (auch als E-Book erhältlich)
Verlag: Golkonda Verlag, Berlin, Klappenbroschur, 289 Seiten
VÖ: 21.11.2014

Offizielle Jo Walton Homepage
Golkonda- Verlagsseite (mit Leseprobe)