Der Astragal: Hoffnung! Wiedergefunden!

astragal-vorschauEine junge Frau bricht sich bei der Flucht aus einer Strafanstalt den Fußknöchel und trifft dafür die Liebe ihres Lebens. Der autobiografische Roman der französischen Schriftstellerin Albertine Sarrazin galt Mitte der 1960er Jahre als literarische Sensation. Die Comic-Künstler Ann-Caroline Pandolofo und Terkel Risbjerg haben 2013 daraus eine beeindruckende Graphic Novel gemacht, die nun hierzulande bei Schreiber & Leser erschienen ist.

Das Heimkind Anne hat schon eine ganze Reihe von Erziehungsanstalten hinter sich als sie mit 19 Jahren bei einem Ausbruch von einer zehn Meter hohen Mauer springt und sich den Astragalus, einen Knochen im Sprunggelenk, bricht. Nicht in der Lage, selbst zu flüchten, versucht sie per Anhalter nach Paris zu kommen. Ein Unbekannter nimmt sie mit und bringt sie zunächst bei seiner Mutter unter. Der Mann ist Julien und hat selbst eine kriminelle Vergangenheit. Später schafft Julien Anne zunächst anonym in ein Krankenhaus und später nach Paris, wo sie bei einer ehemaligen Prostituierten unterkommt.

Zwischen Anne und Julien, die sich auf den ersten Blick als wesensverwandt erkennen, entbrennt eine Liebe, die allerdings immer wieder von langen Phasen der Abwesenheit gestört wird. Während Anne sich verstecken muss und aus schierer Geldnot immer wieder anschaffen geht, fährt Julien wegen diverser Diebstähle mit beständiger Regelmäßigkeit in den Bau. Doch Anne wartet – bewaffnet mit Schnaps, Kippen und unerschütterlicher Hoffnung auf ihren Liebsten.

astragal-leseprobe462-1Eigentlich sollte man die Graphic Novel nicht loben, ohne den Roman zu kennen, der seinerzeit für enormes Aufsehen in Frankreichs Literaturszene sorgte – ich tue das trotzdem. (Und der Roman, im vergangenen Jahr bei Hanser neu aufgelegt, steht jetzt ziemlich weit oben auf meiner Leseliste). Es gelingt dem Duo Anne-Caroline Pandolfo, die für das Script zuständig ist, und dem Zeichner Terkel Risbjerg eine Atmosphäre zu kreieren, die der Grundstimmung der Geschichte schlicht und einfach gerecht wird und das Milieu, in dem sich Anne und Julien bewegen, mit düsterem, verhuschte Strich einfängt, ganz so wie sich ein Leben im Verborgenen, im halbseidenen Paris der Huren und Ganoven anfühlen muss. All das wird aus Annes Perspektive erzählt und Risbjergs Zeichnungen inszenieren die jeweiligen Situationen trefflich.

astragal-leseprobe462-2Die anfängliche Ungewissheit der nächtlichen Flucht in weiten dunklen Sequenzen, das Landleben mit offenen Panels und stimmungsvollen Impressionen , die großstädtische Enge mit vielen kleinen Panels pro Seite. Und immer wieder füllt das mit wenigen Tuschestrichen plakativ skizzierte Gesicht ganze Panels, um ihre Reaktionen einzufangen. Dann wieder wird Annes Stimmung in einer fast surrealen Treppe umgesetzt, die es hinabzusteigen gilt.

Das Script von Anne-Caroline Pandolfio schafft es gekonnt, das Tempo der Erzählung zu variieren. In der Graphic Novel steht die Liebesgeschichte im Vordergrund, auch wenn der Roman eher für seine schonungslosen und psychologisch genauen Milieuschilderungen bekannt wurde (so Patti Smith im Nachwort). Die lassen sich allerdings nicht in Bilder fassen, ohne zu textlastig zu werden. Annes Freiheitsdrang allerdings und ihre selbstbestimmte, sehr pragmatisch gelenkte Existenz sind mitfühlend eingefangen. Der scheinbare Kontrast zu ihrer naiv-romantischen Sehnsucht nach Liebe und dem damit verbundenen Warten auf Julien löst sich auf, denn Anne selbst empfindet darin keinen Widerspruch.

Die Graphic Novel „Der Astragal“ erweckt den gleichnamigen quasi biografischen Roman von Albertine Sarrazin zu neuem Leben. Schön und schroff  erhebt sich die zeitlose Geschichte einer selbstbestimmten Frau.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

astragal-coverDer Astragal
OT: L’Astagale (nach dem Roman von Albertine Sarrazin, 1965)
Autorin: Anne-Caroline Pandolfo
Zeichner: Terkel Risbjerg
Übersetzung: Karen Bo
ISBN: 978-3943808438
Verlag: Schreiber & Leser, Broschur, 220 Seiten
VÖ: Juli 2014

Astragal bei Schreiber & Leser