Interview mit Marjane Satrapi

huhn-mit-Szenenbild_01Während des Filmfestes Hamburg im Oktober 2011 feierte das französische Drama „Huhn mit Pflaumen“ seine Deutschlandpremiere. Anlass genug sich mit Marjane Satrapi zu unterhalten, der iranisch stämmigen Künstlerin, die sowohl die Comic-Vorlage für den Film erdacht hat, als auch bei der Verfilmung Regie führte. Wie schon „Persepolis“ beschäftigt sich auch „Huhn mit Pflaumen (OT: Poulet aux Prunes“) mit Satrapis Familiengeschichte im Iran. Und weil das Internet so viel virtuellen Platz bietet, gibt es das Interview in gesamter Länge. zur besseren Übersichtlichkeit sind Zwischentitel eingefügt. 

Animation oder Realfilm?

Interviewer: Ich habe in einem Interview zu „Persepolis“ gelesen, dass Sie sich gegen einen Realfilm entschieden haben, weil er zu konkret, nicht abstrakt genug wäre. Warum haben Sie sich dieses Mal für einen Realfilm entschieden?

cover-pouletSatrapi: Was ich über „Persepolis“ gesagt habe: Wir wollten einen Film machen. Dann dachten wir: Wenn wir ihn an einem konkreten Ort mit realen Menschen ansiedeln – der Film würde zur Geschichte dieser Menschen werden. Im Nahen Osten. Die Zuschauer sollten nicht denken: „Die Menschen sehen anders aus als wir, die Region ist uns fremd, das ist nicht unsere Geschichte.“ Durch das Abstrakte der Zeichnungen kann jeder eine Beziehung zur Geschichte aufbauen. Daher haben wir uns entschieden, einen Animationsfilm zu machen. Wir wollten aber keine großartigen Animationsfilmmacher werden. Wir wollten einfach noch einen Film machen und die Geschichte dieses Films bot sich nicht für eine Animation an. Die Geschichte, eine Liebesgeschichte, ist auch so allgemeingültig. Darunter findet sich noch eine politische Ebene. Die Handlung spielt in den 50er-Jahren, die Geliebte heißt Irâne, wie das Land. Und in den 50ern wurde der Traum von Demokratie in meinem Land zerstört, es geht also auch um das, was man verloren hat und zugleich für immer im Herzen bewahrt. Dieses Sinnbild: wenn man es weiß, sieht man es, andernfalls bleibt der Film ein Melodrama, eine Liebesgeschichte.

Aber es hat uns das Leben nicht leichter gemacht, denn wenn man einen guten Animationsfilm gemacht hat, wollen alle, dass man noch einen guten Animationsfilm macht. Aber es war einfach toll, etwas Neues zu versuchen.

Interviewer: Aber Sie haben das Instrument ausgetauscht und das traditionelle ersetzt.

huhn-mit-Szenenbild_05Satrapi: Auf Bildern aus Teheran sieht man, dass viele der Bäcker dort Geige spielen, um etwas Geld zu verdienen. Wir haben die Geige genommen, weil die Tar ein sehr spezielles Instrument ist. Sie sieht seltsam aus, mit dem Korpus in Form einer Acht, sie ist ziemlich groß und wird auf eine spezielle Art gespielt. Im Film verdeckt das Instrument das wahre Thema nur. Es ist ein Vorwand für die Liebesgeschichte. Wenn das Instrument aber so ungewöhnlich ist, dass es die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist das nicht gut für das Gleichgewicht des Films. Dann gilt das Interesse dem Instrument, während es doch nur als Vorwand für eine andere Geschichte dienen soll. Es ist ja eine Adaption und die wollten wir so machen, wie es für das Gleichgewicht und den Rhythmus des Films am besten ist. Deswegen haben wir ein anderes Instrument gewählt.

Die Zusammenarbeit mit Vincent Paronnaud

Interviewer: Es ist die zweite Zusammenarbeit mit Ihrem Regie-Kollegen. Bei zwei Regisseuren frage ich mich immer, wie sie arbeiten: Teilen sie die Arbeit auf oder arbeiten sie fast symbiotisch, wie die Coen-Brüder?

Satrapi: Wir arbeiten gar nicht symbiotisch. Vincent und ich sind gänzlich verschieden, vollkommen entgegengesetzt. In den grundlegenden Dingen, also unseren Ansichten zum Leben, zur Politik, zu sozialen Fragen, zur Kunst usw., sind wir uns aber einig.

Interviewer: Sie haben auch einen gemeinsamen Arbeitsbereich?

Satrapi: Genau, wir arbeiten im selben Studio. Und wir sind schon lange befreundet. Wir arbeiten so, dass wir ein Drehbuch schreiben und dann ein Storyboard machen. Wenn das fertig ist, haben wir schon eine gezeichnete Version des Films. Wir diskutieren viel: über den Rhythmus des Films, alles Mögliche. Wenn wir dann am Set sind, haben wir vieles schon besprochen. Dort teilen wir die Rollen dann auf. Vincent kümmert sich eher um die Kamera, ich kümmere mich eher um die Darsteller. Er ist also eher für den Rahmen zuständig, ich bin eher für das zuständig, was im Rahmen abläuft. Aber wenn ich etwas sage, das ihm nicht gefällt, sagt er es mir. Und wenn er etwas tut, das mir nicht gefällt, dann sage ich es ihm. Manchmal streiten wir auch und schreien uns an.

Interviewer: Das ist doch normal.

Satrapi: Normal? Aber wir geraten dann Stunden in Verzug mit dem Zeitplan … Wir werden nicht alle unsere Projekte immer gemeinsam realisieren. Ich werde sicher etwas alleine machen. Ich habe schon vieles ohne Vincent gemacht und er ohne mich. Ich möchte Filme alleine machen, er macht gerne etwas alleine, und manchmal arbeiten wir eben auch zusammen.

Interviewer: Zu den Storyboards – sind Sie von Ihrem Buch ausgegangen oder haben Sie versucht, es zu ignorieren?

Satrapi: Ich habe versucht, es völlig zu ignorieren. Im Buch gibt es eine Struktur, u.a. durch die acht Tage. Das war schon sehr filmtauglich, eine gute Struktur.

Interviewer: Wie bei allen Graphic Novels.

36ed1_SatrapiHuhnSatrapi: Ja. Also haben wir die Struktur und einige Dialoge beibehalten. Die Sprache des Kinos hat mit Comics nichts zu tun. Alles muss in einer kinematografischen Sprache neu gedacht werden. Comiczeichner wissen, dass die Leser der Comics immer aktiv sind, weil sie zwischen zwei Bildern ihre Vorstellungskraft benötigen, um sich die Bewegung dazwischen vorzustellen. Sie können sich darauf verlassen, dass die Leser sich vorstellen, was geschieht. Wenn man dagegen einen Film ansieht, ist man immer passiv. Der Rhythmus ist schon da, er wird dem Zuschauer vorgegeben. Ich musste also über den Klang nachdenken, über Musik, über alles, was nicht gesagt wird; sonst verstehen die Zuschauer etwas vielleicht nicht. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie die ganze Zeit alles hinzudenken, was nicht gezeigt wird. Alles musste in der Sprache des Kinofilms gedacht werden.

Der Hauptdarsteller Mathieu Amalric 

Interviewer: Haben Sie Mathieu Amalric für die Rolle ausgewählt?

Satrapi: Für uns, für mich ist Mathieu der beste französische Schauspieler. Ich liebe ihn, ich halte ihn für einen wirklich großartigen Schauspieler. Mathieu Amalric war also unsere erste Wahl, und er war auch unsere zweite Wahl. Und unsere dritte Wahl war er auch.

Interviewer: Und wenn er kein Interesse gehabt hätte?

Satrapi: Dann hätte ich ein Riesenproblem gehabt. Ich hatte einfach keine andere Wahl. Mathieu oder keiner. Aber er hat zugestimmt.

Interviewer: Er ist brillant, eine seiner besten Rollen. Er verleiht seinen Charakteren immer etwas Abgründiges. Wunderschön.

Satrapi: Ja, genau. Er hat etwas sehr Eindringliches, er ist sehr intelligent. Mathieu ist einfach wunderbar, ein wunderbarer Schauspieler und Mensch. Nichts könnte einfacher sein, als mit ihm zu arbeiten. Egal, was er tun soll, er macht es.

Interviewer: Seine Rolle geht auf Ihren Großonkel zurück. War es schwierig für Sie, ihn ein Mitglied Ihrer Familie darstellen zu sehen?

huhn-mit-Szenenbild_12Satrapi: Ich habe meinen Großonkel nie gesehen. Wahr in der Geschichte ist nur, dass ich meinen Onkel besuchte und er mir Familienporträts zeigte. Er sagte: „Das ist mein Onkel und der Onkel deiner Mutter. Er war ein wunderbarer Musiker.“ So wunderbar, dass die Menschen sich zum Zuhören auf die Straße setzten, wenn er in seinem Garten Musik machte, und den Verkehr aufhielten. Er war traurig, er starb – das war alles. Den Rest habe ich hinzugedichtet. Ich habe ihn nie getroffen. Aber es war so dramatisch, so romantisch, die Augen dieses Mannes. Für mich war Mathieu der Beste für die Rolle, er spielt eine Figur nicht nur, er wird die Figur. Ich erzähle Ihnen eine kleine Anekdote: Wir haben alles im Studio gedreht.

Die Produktion in Babelsberg

Interviewer: In Berlin.

Satrapi: Ja, genau. Er ging aus seinem Zimmer in den Garten und zündete sich eine Zigarette an. Jemand vom Brandschutz kam und sagte: „Sie dürfen hier nicht rauchen, das ist verboten.“ Mathieu sagte: „Aber ich bin draußen.“ Und der Mann antwortete: „Nein, Sie sind drinnen.“ Er glaubte so fest an die Geschichte – dieser falsche Garten am Set, er war so in der Geschichte aufgegangen, dass er meinte, er sei von seinem Haus in den Garten gegangen! Er hatte vergessen, dass der Garten im Studio war.

Interviewer: Warum haben Sie sich für Berlin entschieden?

huhn-mit-Szenenbild_06Satrapi: Bei Koproduktionen läuft das manchmal so. Anfangs dachten wir: „O.K., drehen wir in Berlin.“ Aber dann war es so großartig, da zu drehen! Die Filmstudios Babelsberg sind wirklich toll. Die Ausstatter sind toll. Unser Ausstatter war ein junger Deutscher, Udo Kramer. Ich hatte zu Vincent schon oft scherzhaft gesagt: „Ein Ausstatter, der genau unsere Vorstellungen trifft, der muss schon in den 50er-Jahren gearbeitet haben. Dann ist er inzwischen tot oder 95 Jahre alt.“ Und dann finden wir diesen jungen Deutschen, 34, 35 Jahre alt, der genau versteht, was wir machen wollen. Das deutsche Team war großartig. Und Berlin ist im Sommer auch wunderbar. Die Studios sind wirklich perfekt. In Babelsberg zu drehen ist ein echter Glücksfall. Die Studios sind großartig. Wenn ich wieder einen Film im Studio drehe, dann mit Sicherheit in Babelsberg. Man kann dort wunderbar arbeiten.

Rauchen

Interviewer: In Ihrem Film verwenden Sie den Rauch und das Rauchen auf sehr symbolische Weise. Das wird im modernen Kino selten gemacht. Mir gefällt das sehr gut, weil auf ganz einfache Weise gezeigt wird, wie die Dinge sich in Rauch auflösen.

Satrapi: Genau so ist es! Rauch ist wie das Leben. Er kommt und geht, wie ein Geist. Darin liegt das Symbolische: Die Dinge kommen und gehen; das Leben ist da und im nächsten Moment ist es wieder verschwunden. Sehr fotogen. In den 50ern raucht jeder. Ich habe mal ein Foto von Robert Mitchum gesehen. In typischer Raucherpose, aber ohne Zigarette, die ist rausretuschiert worden! Oder Lauren Bacall – was wäre sie ohne Zigarette? Aber wenn in den amerikanischen Filmen heute jemand zur Zigarette greift, ist klar, dass er jemanden umbringen oder vergewaltigen wird – der Böse raucht immer. An der Zigarette sieht man, dass gleich das Verbrechen passiert: „Das ist der Böse, er raucht.“ Erfreulicherweise ist das in Europa nicht so.

Filmische Einflüsse

Interviewer: Es gibt auch amerikanische Filme, in denen jemand raucht, weil es zur Handlung in einer bestimmten Situation passt. Eine letzte Frage zum Film: In der ersten Pressevorführung, die ich gesehen habe, haben die Untertitel nicht funktioniert. Und mein Französisch ist ziemlich schlecht. Deshalb habe ich mir die Geschichte fast nur über die Bilder erschlossen. Die Erzählweise und die Art der Bilder haben mich an Jeunets „Stadt der verlorenen Kinder“ erinnert. Kennen Sie den Film?

Satrapi: Ich nehme das als Kompliment, weil ich Jeunet und seine Filme liebe. Aber es gibt viel mehr Hoffnung in seinem Film. Es ist ebenfalls ein Studiofilm, er hat dieses gewisse Etwas französischer Filme; diese französische Ästhetik liebe ich auch. Wenn Sie eine Ähnlichkeit erkennen, ist das ein großes Kompliment für mich.

Interviewer: Können wir über Comics sprechen? Sehen Sie sich als Comic-Künstlerin, als Zeichnerin, als Regisseurin? Oder denken Sie nicht in diesen Kategorien?

Satrapi: So denke ich nicht. Ich mache diese Sachen einfach von Zeit zu Zeit. Ob ich weitere Comics machen werde – wahrscheinlich ja; ich werde auf jeden Fall weitere Filme machen. Aber vielleicht gründe ich ja eines Tages eine Band und später mache ich wieder etwas anderes – ich habe da gar keine Pläne. Ich sehe mich einfach als jemanden, der verschiedene Sachen macht. Ich denke nicht in Kategorien. Filmemacherin, Comiczeichnerin, Grafikerin, von allem etwas. Und es gefällt mir, dass ich all das machen kann.

Interviewer: Tausende Fragen bleiben unbeantwortet … Vielen Dank.

Das Interview führte Frank Schmidke. Die Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Lassek.

„Huhn mit Pflaumen“ ist im Prokino-Filmverleih erschienen und läuft seit dem 5. Januar deutschlandweit in den Kinos.  Die Graphic Novel erschien in der Edition Moderne