Manchmal während der Lektüre von Jonathan Lethems Exegese des Talking Heads Albums „Fear of Music“ möchte man dem Schreiber zurufen: „Stop Making Sense!“. diese ewige Neigung allem Sinnhaftigkeit und Bedeutung beimessen zu wollen. Trotzdem, oder gerade deshalb, gehört Lethems Beschäftigung mit dem Album und mit seiner eigenen Jugend zu dem Lesenswertesten, was in den vergangenen Jahren über Musik geschrieben wurde. Diese Art vom Musikliteratur muss man allerdings zu schätzen wissen oder gar Fan sein, um sich überhaupt vorstellen zu können ein Album anstelle eines Kopfes zu haben.
1979 veröffentlichten die Taling Heads ihr drittes Album „Fear of Music“. Für das jüngere Ich des Autors, zu dieser Zeit selbstredend Talking Heads Fan, eine Offenbarung und zugleich ein Abgesang der Band auf das bislang erreichte und eine Andeutung dessen, wohin sich die Band entwickeln sollte. Die New Yorker New Wave Band Talking Heads wurde 1975 von Kunststudenten gegründet und existierte bis 1992. Die Bandhistorie lässt sich ansonsten auch bei Wikipedia nachlesen. Prägend für die Musik der Band sind Gabriel Byrnes von Stadtneurosen und dem Leiden des modernen Menschen geprägte Lyrics und auf den ersten Alben ein sperriger recht punkiger Sound, der später immer mehr Einflüsse der Black Music einbezieht. Nach „Taling Heads“ (1977) und „More Songs About Buildings And Food“ (1978) erscheint ´79 “Fear of Music” und markiert die erste auch Sound bestimmende Zusammenarbeit mit dem Produzenten Brian Eno. Das 1980 folgende Album „Remain in Light“ gilt gemeinhin als kreativer Höhepunkt der Talking Heads und katapultiert die Band aus den kleinen (New Yorker) Clubs auf Stadienbühnen weltweit.
Als Teenager ist Jonathan Lethem von Beginn an mit der Band verbunden und fühlt hier den Sound seiner Stadt. Mit all ihren Ängsten und Widersprüchen. Nachzulesen, wenn auch fiktionalisiert in Lethems wunderbaren Roman „Die Festung der Einsamkeit“. Rund dreißig Jahre später nimmt Lethem das Album, das ihn geprägt und beschäftigt hat wie kein zweites, Stück für Stück auseinander. Seziert musikalische Kleinstbewegungen, interpretiert Sounds und zerpflückt Textzeilen; er setzt alles wieder zusammen, nachdem er es sowohl durch seinen jetzigen als auch seinen damaligen Befindlichkeitsfilter gejagt hat.
Die Empfehlung beim Lesen das Album auch tatsächlich in angemessener Lautstärke zu hören, kommt nicht von ungefähr. Schließlich sollte man selbst erfahren haben, worum es überhaupt geht und was die Grundlage dieser Ausführungen ist. Wer mit dem Album oder der Band bislang nicht vertraut ist, wird Schwierigkeiten haben, die Wirkung der Musik in ihrem zeitgenössischen Zusammenhang nachzuvollziehen. Schließlich sind heute Stilistiken, Soundelemente und textliche Elaborate im radiotauglichen musikalischen Mainstream angekommen, die in ganz anderer Weise wirken. Was die Talking Heads anno 1979 veröffentlicht haben, mag heute als Art-Rock ein wenig angestaubt klingen.
Jonatham Lethem ist ein Fan und er schreibt für Fans und Musikafficinados. Talking Heads Fan muss man nicht notwendiger Weise sein. Das Prinzip der Identifikation ist ewig gleich, egal ob als Reggae-Fan oder als Metalhead. Dabei ist er sich durchaus bewusst, wie sehr das legendäre Zappa-Zitat „Writing about Music is like Dancing to Architecture“ zutrifft. Aber es gibt wenig Bands, deren Musik sich so wunderbar und so reichhaltig auseinanderpflücken lässt, wie die der Talking Heads. Lethem geht die Songs in der Album-Reihenfolge durch, ausgehend von der These, dass zu jener Zeit jedes Album auch ein (unausgesprochenes) Konzept beinhaltet. Zwischendurch jedoch fragt sich der Autor und Musikliebhaber immer wieder was für eine Art Album „Fear of Music“ denn nun sei? Asperger-Platte oder doch eigentlich Brian Eno Album? In allerbester musikjournalistischer Manier bringt der Autor Jonathan Lethem die Musik der Talking Head auf den Tisch. Es geht nicht darum, das Album „Fear of Music“ irgendwo festzunageln, zu verorten, sondern dem Reichtum und der Faszination dieser Ansammlung von Tönen und Aussagen zu huldigen. Jeder der Music-Fan ist oder war wird das nachvollziehen können.
In seiner nerdartigen Verbissenheit übertrifft Lethem sogar Greil Marcus („Lipstick Traces“, „Über Van Morrison“), ohne in dessen heiligen Ernst zu verfallen. „Fear of Music“ ist auch witzig und selbstironisch, genau wie die Vorstellung einer durch Brooklyn schlurfenden Comicfigur mit einem Stück Vinyl als Kopf.
Buch-Wertung: (8 / 10)
Jonathan Lethem: Talking Heads – Fear of Music
Ein Album anstelle meines Kopfes
OT: Talking Heads – Fear of Music
Autor: Jonathan Lethem
Übersetzung: Johann Christoph Maass
ISBN: 978-3-608-50333-3
Verlag: Tropen Verlag, gebunden, 176 Seiten
VÖ: 18.07.2014
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