1973 hat der deutsche Filmmacher Johannes Schaaf einen seltsamen Film gedreht: „Traumstadt“ ist die Verfilmung eines kaum bekannten, fantastischen Romans von Alfred Kubin, der 1909 unter dem Titel „Die andere Seite“ erschien. Auch wenn dem Film wenig Erfolg beschieden war, handelt es sich doch um ein außergewöhnliches Werk der deutschen Filmgeschichte, das auch heute noch seinesgleichen sucht. Nun ist „Traumstadt“ auf DVD erscheinen. Also, wo ist Patera?
Florian Sand (Per Oscarsson) ist ein Künstler in einer Schaffenskrise, als ein Unbekannter, der ihn seit tagen verfolgt, ihm ein folgenschweres Angebot unterbreitet. Im Auftrag von Sands Schulfreund Patera lädt der unbekannte den Künstler und seine Frau in die Traumstadt ein. Diese hat Patera extra mit dem Ziel gegründet, herausragenden und wachen Geistern ein neues Zuhause mit möglichst großer Freiheit zu gewährleisten. Sands Frau Anna (Rosemarie Fendel), die in einer Behörde arbeitet, ist von dem Umzug nicht angetan und bleibt skeptisch. Doch ihr Gatte erhofft sich viel on diesem Ortswechsel.
Die Reise führt in eine beinahe Mittelalterlich anmutende Stadt ohne Autos und Strom. Jeder kann hier tun und lassen was er will – solange es die anderen nicht einschränkt. Ein als Narr verkleideter Zwerg empfängt die Sands, der Bürgermeister bittet sie, sich ein Haus auszusuchen, in dem sie wohnen wollen und schon bald haben die Sands dieses auch gefunden. Während Florian auf der Suche nach seinem unauffindbar bleibenden Schulfreund, dem Stadtgründer, durch die Straßen streift und allerlei merkwürdige Begegnungen hat, verschwindet Annas Unbehagen mit der Traumstadt nicht. Doch es scheint unmöglich zu sein, die Stadt lebend wieder zu verlassen.
Florian ist fasziniert von einer schweigsamen unbekannten Schönen, Anna erkrankt schwer und außerdem bahnt sich in der Traumstadt ein Aufstand an, angeführt von Herkules Bell (Rony Williams).
Der Filmmacher Johannes Schaaf verfilmt mit „Traumstadt“ 1973 den einzigen Roman des Zeichners und Grafikers Alfred Kubin „Die andere Seite“. Wie auch Kubins grafisches Werk ist sein 1909 erschienener Roman vor allem fantastisch und surreal. „Die andere Seite“ galt aufgrund seiner Vieldeutigkeit gemeinhin als kaum verfilmbar und der Drehbuchautor und Regisseur Schaaf nimmt sich einige Freiheiten, um aus der thematischen Vorlage einen Film zu machen. „Traumstadt“ ist also weniger eine werkgetreue Verfilmung als vielmehr ein eigenständiges Werk, das von seinem großen Reichtum an Symbolen und Deutungsmöglichkeiten lebt.
Wenn man den gerade als DVD erschienenen Film heute, rund vierzig Jahre später, sieht, wirkt vieles unspektakulär und auch ein wenig bieder, dabei hat „Traumstadt“ sowohl inhaltlich als auch formal einiges zu bieten, was allerdings nicht immer überzeugend durch die bürgerliche Perspektive des Protagonisten und seiner Frau durchscheint. Glücklicher Weise bringt ein zum Anlass der DVD-Veröffentlichung geführtes Interview mit dem Regisseur Johannes Schaaf Licht ins Dunkel, aus dem die Traumstadt erwächst. Vieles in „Traumstadt“ bleibt szenisch, es fehlt ein gewisser Erzählfluss und einiges wirkt abrupt und auch unsubtil montiert, was allerdings daraus resultiert, dass Schaaf den Film, der noch immer etwas zwei Stunden dauert um eine Stunde kürzen musste, damit er überhaupt veröffentlicht wurde. Das geschnittene Material wurde zur Schade der deutschen Filmgeschichte auf vernichtet, so dass sich ein „Director‘s Cut“ nicht mehr realisieren lässt.
Das Projekt war aufwändig, mit etwa zwei Millionen DM vergleichsweise teuer und hat den Filmmacher Schaaf auch an die Grenzen dessen geführt, was sich mit dem Medium Film künstlerisch seinerzeit in Deutschland realisieren ließ. Auch die Dreharbeiten, gerade in der ehemaligen Tschechoslowakei, liefen alles andere als reibungslos und einige Elemente der Kafkaesken Bürokratiehindernisse finden sich auch im Film wieder.
Was aber bleibt von der „Traumstadt“? Vordergründig der Abgesang auf ein zu hohes Maß individueller Freiheit, das im dem zeitlichen Kontext der auslaufenden Studentenbewegung auch ein Schwanengesang auf dem hochfliegenden Idealismus und die Utopie einer besseren Gesellschaft bedeutet. Dich es finden sich auch Motive und Szenen, die in surrealer Überspitzung die Dekadenz der Gesellschaft, die Greuel des Krieges und die moralischen Paradigmen der Zeit und der Bundesrepublik reflektieren. Filmisch war „Traumstadt“ mit seinem fantastischen Setting und der schlicht wirkenden aber grandiosen Ausstattung eine Art Kostümfilm, der sich von den anderen eher realistischen Werken des Neuen Deutschen Films“ durchaus abhob. Große Anerkennung gab es dafür seinerzeit allerdings nicht.
Es mag Zufall sein, dass gerade in diesen Tagen auch dasfilmische Frühwerk von Alejandro Jodorowski wieder aufgelegt wurde, doch es gibt gewisse Parallelen zu dessen Pseudowestern „El Topo“ (1975). Dieser ist zwar in der Aussage ganz anders ausgerichtet und in der Wahl der darstellerischen Mittel deutlich krasser und expliziter, aber beide Filme bedienen sich, jeweils auf ihre Weise, surrealer Entwürfe, um etwas substanzielles zu schaffen, was seiner zeit scheinbar voraus war und somit auf konsequentes Unverständnis stieß. Auch „Traumstadt“ erzählt von einer spirituellen Reise. Doch wo der Reviolverheld „El Topo“ die Konventionen mit Gewalt einreißt, bleibt der Künstler Florian Sand in seiner kleinbürgerlichen Perspektive gefangen.
„Traumstadt“ bleibt ein seltsames Mysterium, das ein Kind seiner Zeit bleibt, aber darüber hinaus mit einigen furiosen und grandiosen Szenen die schwächeren Phasen des Films mehr als wieder wettmacht. Für experimentelle Cineasten durchaus zu empfehlen.
Film-Wertung: (8 / 10)
Traumstadt
Genre: Drama, Phantastik, Surrealismus
Länge: 112 Minuten, D, 1973
Regie: Johannes Schaaf
Drehbuch: Johannes Schaaf nach „Die andere Seite“ von Alfred Kubin
Darsteller: Per Oscarsson, Rosemarie Fendel, Eva Maria Meineke, Alexander May
Bonus: Interview mit Johannes Schaaf (ca. 45 Minuten)
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Filmjuwelen/ Alive
Erstausstrahlung: 15.11.1973
DVD-VÖ: 28.03.2014