Die Idylle der sommerlichen Ruderpartie ist schnell vorbei, als der alte Mann auf die Fragen erbost reagiert: „Ich geh über Bord! Ich hör‘ die scheiß-westdeutschen Filmfragen genau raus. Denk mal nicht! Ich hab‘ kein Gewissen und ich hab‘ keine Moral; jedenfalls nicht Eure!“ Auftritt Paul Gratzik: Einst gefeierter DDR-Autor und Stasi-Informant, heute ein weitgehend vergessener Literat, der zurückgezogen, fast eremitisch in der Uckermark lebt. Das Film-Portrait „Vaterlandsverräter“ ist alles andere als eine weitere Aufarbeitung der DDR mit klaren Feindbildern und Vorurteilen. Paul Gratzik ist ein Mensch voller Widersprüche. Eigentlich hat er absolut keine Lust, sich mit seiner Stasti-Vergangenheit auseinanderzusetzen und doch geht er immer wieder auf die Fragen der Regisseurin Annekatrin Hendel ein. Seine Informantentätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR bleibt der Dreh- und Angelpunkt des Films.
Dabei hat der 1935 geborenen Autor schon in den 1960ern für die Stasi gearbeitet, lange bevor er Schriftsteller wurde und später zu einem der gefeierten und prägenden Autoren Ostdeutschlands. Erstaunlicherweise beendete Gratzik die Zusammenarbeit Anfang der 1980er von sich aus und wurde daraufhin selbst zum Zielobjekt der Behörde. Mehr noch, er macht seine Spitzeltätigkeit öffentlich. Damit einher geht eine berufliche Repression: Gratzik wird in der DDR nicht mehr veröffentlicht. Zieht sich auf einen alten sehr entlegenen Bauernhof in der Uckermark zurück und lebt und arbeitet hier bescheiden, selbstbestimmt und ungestört von der Welt noch heute.
Annekatrin Hendel, die sich in ihrem Filmschaffen mit der DDR und deren Verschwinden beschäftigt, begleitet Paul Gratzik, redet mit ihm über sein Leben und Schaffen, befragt und trifft Weggefährten und Familienangehörige, und nimmt auch Kontakt zu der Stasi-Unterlagen-Behörde und Gratziks ehemaligem Führungsoffizier auf. Einige Situationen aus Gratziks Leben werden von Gemälden illustriert, die Leif Heanzo für den Film anfertigte.
„Wie hoch war die Durchsetzung der Stasi bei den DDR-Autoren? „Satte 90%. Es gibt eigentlich nur zwei Autoren, die wir veröffentlicht haben, von denen es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass sie nicht mit der Stasi zusammengearbeitet haben.“ (Gabriele Dietze, ehemalige Lektorin des Rotbuchverlags)
Stasi, immer wieder Stasi. Und doch kommt bei allem Kreisen um den alles beherrschenden Themenkomplex kein beurteilendes Gesamtbild zustande. Was allerdings offen zutage tritt, ist das enorme Ausmaß und die Absurdität mit der die Stasi den Alltag und jeden Lebensbereich in der DDR verseucht hat. Für jemanden, der nicht in diesem Regime gelebt hat, bleibt das ein schwer nachvollziehbares, großteils abstraktes Mysterium, das jenseits des Verstandes ist. Doch es geht „Vaterlandsverräter“ nicht darum, zu irgendeiner Art von Beurteilung über Gratziks Leben zu kommen. Der Film bewegt sich jenseits von plakativen Schuldfragen und richtet sein Interesse vielmehr auf den Menschen selbst. Und der zeigt sich alles andere als einfach oder symphathisch, sondern eigenwillig, launisch, misstrauisch, arrogant und höchst streitbar, aber in all seiner Eigenwilligkeit höchst ehrlich.
Von sich selbst behauptete Gratzik, bei der Stasi habe er schreiben gelernt, bei der Durchsicht der von ihm verfassten Berichte, kommen ihm angesichts des Stils doch gelegentlich Zweifel an dieser Behauptung. Dem Zuschauer bleibt noch immer die Gelegenheit, sich mit Gratziks Werk zu beschäftigen.
Fazit: „Vaterlandsverräter“ ist ein ebenso verstörendes wie faszinierendes Portrait eines Menschen und Literaten, der ebenso sehr Täter wie Opfer war und gelernt hat, mit dieser Zerrissenheit zu leben. Ein absolut empfehlenswerter und wichtiger Film.
Film-Wertung: (8 / 10)
„Vaterlandsverräter“
Genre: Biographie, Dokumentarfilm,
Länge: 97 Min., D 2011
Regie: Annekatrin Hendel
Mitwirkende: Paul Gratzik
Vertrieb: Edition Salzgeber
FSK: Ohne Altersbeschränkung
Kinostart: 20.10.2011
Weiterführende Links:
offizielle Film-Homepage mit Startterminen und Kinofinder
Paul Gratzik in der deutschen wikipedia