Frisch und voller Vorfreude stürze ich mich in den Donnerstag auf dem Filmfest Hamburg. Als hätte es die kleine Auszeit benötigt, entpuppen sich alle vier Filme als Gewinner. „Rouge Ciel“ entführt mich unterhaltsam, „Armadillo“ ist bedrückend und eindringlich, „True Noon“ trotz der Dramatik voller Lebensfreude und „Pete the Heat“ ist einfach unwiderstehlich eigen.
Der Tag beginnt mit einem filmischen Essay über Art Brut, wie auch der Untertitel von „Rouge Ciel“ schon verrät. Was genau jetzt Art Brut ausmacht, weiß ich auch nach Film nur diffus, aber man sollte sich bei dieser autodidaktischen Kunst nicht so sehr an Begriffe klammern. Wer mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen kann, sei zum Einstieg auf Wikipedia verwiesen.
Was ist eigentlich Kunst?
Filmmacher und Galerist Bruno Decharme nähert sich dem Gegenstand seiner Betrachtung in mehreren Akten, geht auf die Geschichte der Art Brut ein,lässt Experten zu Wort kommen und porträtiert wichtige Vertreter und herausragende Werke.
Visuell ist das Ganze sehr ansprechend aufbereitet und mit stimmiger Musik unterlegt. Obwohl es sich bei den Künstlern fast immer um Randexistenzen handelt, ist „Rouge Ciel“ alles andere als eine Freakshow oder ein Kuriositätenkabinett – vielmehr eine unterhaltsame und gelungene Näherung an eine noch immer wichtige und aktuelle Kunstströmung.
Filmisch ist „Rouge Ciel“ seinem Gegenstand entsprechend ausgefallen und mir hat es einfach Spaß gemacht, so vielen Menschen dabei zuzusehen, sich kreativ auszutoben (8/10).
So positiv gestimmt schaue ich mir den nächsten Dokumentarfilm an und mache irritierende Erfahrungen. „Armadillo“ begleitet dänische Isaf-Soldaten bei ihrer Afghanistan-Mission. Der Film von Janus Metz schleppt insofern haufenweise Vorschusslorbeeren mit, als dass er in seiner dänischen Heimat heftige Diskussionen auslöste und in Cannes mit dem Preis der Kritik ausgezeichnet wurde.
Bilder vom Afghanistan-Einsatz
„Armadillo“ heißt der afghanische Stützpunkt der Truppe, der sich in direkter Nähe zum Einzugsgebiet der Taliban befindet. Feindkontakt ist also zu erwarten und bleibt während des Films nicht aus. Die Dokumentation ist in sich schlüssig und begleitet die Soldaten, ohne zu kommentieren und zu werten, was sicherlich zur Kontroverse beiträgt. Aus der Sicht der dänischen Kämpfer ist ihre Situation jedenfalls ebenso eindeutig wie ihre Aufgabe und ihr Selbstverständnis. „Armadillo“ gibt erstaunliche und bewegende Einblicke.
Doch der Film hat einen ganz großen Haken: Er folgt einer Spielfilmdramaturgie. Das ist für eine Dokumentation absolut legitim, sorgt in diesem Fall bei mir aber für extreme Verwirrung. Von Anfang an wird offensiv mit einem Soundtrack gearbeitet und viele der Aufnahmen erinnern an „Platoon“ oder „Apocalypse Now“. Ich finde das schwierig und zumindest diskussionswürdig, denn es inszeniert statt zu dokumentieren. Wie viele Kameraleute waren bei Patrouillen unter Beschuss? Wieviel Drehbuch braucht ein Dokumentarfilm? Dennoch bleibt „Armadillo“ ein eindrücklicher Film, der am 9. Oktober noch einmal auf dem Filmfest zu sehen ist (7/10).
Wer braucht schon Grenzen?
Der tadschikische Film „True Noon“ (OT: „Qiyami Roz“) macht es dem Zuschauer da leichter. In einem Ort am Rande der ehemaligen UdSSR wartet ein alter russischer Meteorologe darauf, dass seine einheimische Assistentin die Wetterstation übernehmen darf. Doch es gibt Hindernisse: Die Funkverbindung ist gestört und die Assistentin wird heiraten.
Just während der Meteorologe die Familien zu überreden versucht, dass die Braut die Station weiter betrieben soll und die Hochzeitsvorbereitungen auf Hochtouren laufen, ziehen Soldaten eine Staatsgrenze mitten durch den Ort. Krankenhaus, Schule und Bräutigam auf jener Seite, Wetterstation und Braut auf dieser. Doch die Bevölkerung lässt sich von diesem administrativen Willkürakt nicht beeindrucken und versucht, die Grenze so gut es geht zu ignorieren.
„True Noon“ lebt von einer absurden Situation, die doch so realistisch ist. Regisseur Nosir Saidov zeigt seine Bewohner als lebendige und bauernschlaue Gemeinschaft, die letztlich doch nicht gegen den Grenzzaun gewinnen kann. „True Noon“ läuft noch einmal am 8. Oktober (7/10).
Ab in die Karibik
Zum Abschluss des Filmtages ist noch ein bisschen Hamburg-Folklore der speziellen Art angesagt. Henna Peschels No-Budget-Filme gehören zum Filmfest Hamburg inzwischen einfach dazu, und nachdem ich am Samstag schon die Premiere sausen ließ, wird es höchste Zeit für meinen Showdown mit „Pete the Heat“.
Der arbeitslose BMX-Profi Pete muss dringend aus Hamburg verschwinden, um nicht wieder im Knast zu landen. Sein Kumpel, ein Kiez-Wirt, schließt sich da gerne an, doch zuvor brauchen die beiden noch Startkapital. Dann soll es in die Karibik gehen. Pete lernt einen Bootsbauer kennen, der gerade ein Hausboot wieder flott macht. Genau das Richtige für die Atlantiküberquerung.
Wenn nur alles so einfach wäre wie geplant! Henna Peschels sympathische Randexistenzen wursteln sich mal wieder auf charmant trashige Weise durch Hamburg. Mir hat „Pete the Heat“ noch besser gefallen als „Dicke Hose“ im letzten Jahr und wieder mal gibt’s Extrapunkte für die komplette Eigenproduktion (7/10).
Ein rundherum gelungener Filmtag: bunt, abwechslungsreich und mit sehenswerten Filmen. Da kann ich mir doch beruhigt von „Turbostaat“ das Hirn frei pusten lassen. Aber dazu bei anderer Gelegenheit mehr.
Bis morgen.
Die Top 5 des Filmfests Hamburg
1. „Spork“
2. „Poetry“
3. „Viking“
4. „Das Labyrinth der Wörter““
5. „Rouge Ciel“