Lust & Glaube Gesamtausgabe: Neuauflage 2024

Es scheint, als läge eine Verfilmung der kultigen Sci-Fi-Comic-Serie „Der Incal“ im Bereich des Hollywood-Möglichen. Was das der Fangemeinde tatsächlich an Erkenntnis bringt sei mal dahingestellt. Immerhin ging es dem Autor, Regisseur und Comic-Szenarist Alejandro Jodorowsky oft genug darum, Transzendenz zu erlangen. So wie es auch dem Zeichner und Illustrator Jean Giraud alias Moebius oft genug darum ging, die Wahrnehmung zu erweitern. Insofern ist die Neuauflage der Gesamtausgabe von „Lust und Glaube“ weit mehr als nur akademisierte Pornografie oder eine Satire auf den Uni-Betrieb nach der Studentenrevolte. Der kompetente Verlag Schreiber & Leser schließt mit der editierten Neuauflageeine weitere Lücke in der Moebius-Werkschau.

Erstmals haben Schreiber & Leser die Gesamtausgabe von „Lust & Glaube“ im Jahr 2021 veröffentlicht. Seinerzeit zierte noch der züngelnde innere Dämon des Professors das Cover. Nun hat sich die Heilige Elisabeth in adrettes, abstinentes Lila geworfen. Der kundige Comic-Verlag Schreiber & Leser wäre nicht so eine Qualitätsinstitution, hätte die Neuauflage nicht Anlass gegeben, die Edition zu erweitern.

Neu sind ein kenntnisreicher Essay über das gemeinsame (und getrennte) Werk von Alejandro Jodorowsky und Jean Giraud aka Moebius. Und neu ist die Illustration eines erotischen Poems aus dem 19. Jahrhundert aus der Hand von Moebius. Vielleicht findet sich darin ein guter Ausgangspunkt, um „Lust & Glaube“ zu erforschen.

Ode X: An die Liebe

Das Gedicht „Erinnerungen“ von Albert Patin de La Fizelière strotzt nur so vor pornografischen Anspielungen über ein ausschweifendes Sexualleben. Moebius macht daraus eine fünfseitige existentialistische Fahrt ins Abstakte der Erinnerung. Darin ändert sich die Perspektive und macht aus dem Monolog des Gedichts einen Dialog. Ein gemeinsames Rückblicken mit der zu einem Torso reduzierten Dame der erotischen Abenteuer. Erinnerung als Schlüssel für eine surrealistische Tür zur Erinnerung.

Nun aber „Die Irre von Sacré-Coer“. Der alternde Philosophieprofessor Alain Mangel hat aufgrund von Impotenz zu Abstinenz und zur Religiosität gefunden. Als ihn seine Frau wegen eines jüngeren Liebhabers verlässt, wirft sich die junge Studentin Elisabeth dem Professor an den Hals.

Seine Vorlesung über die biblische Geschichte von Zacharias und Elisabeth, die Johannes den Täufer zeugen, bestärkt sie in der Vision auserwählt zu sein. Sie die Elisabeth, die von Alain Zacharias Mangelowsky einen Propheten empfängt. Der Professor kämpft mit eigenen Dämonen und seine Geilheit obsiegt.

„Ich bin der grüne Narr, der Karnevalsprinz, der heilige Geist!“

Erstaunlicherweise scheint Elisabeth schwanger und der pflichtschuldige Philosoph muss nun weitere Heilsbringer einsammeln. Den heiligen Joseph, der sich als drogensüchtiger Mörder herausstellt, und Maria, die Mutter Jesu, die als Tochter eines kolumbianischen Drogenbarons auf eine unbefleckte Empfängnis wartet. Das Quartett ist komplett und braucht eine Bleibe an der Küste.

in „Gefangen im Irrationalen“ bekommt es der geläuterte Professor mit einer zukunftsgewissen Schwangeren zu tun und mit den Anforderungen, einer Prophezeiung gerecht werden zu müssen. Am Ende warten Alain und Elisabeth immer noch auf Nachwuchs, aber der Drogenbaron holt rüde nicht nur seine Tochter zurück nach Südamerika.Abschließend kommt Alain in „Der Irre von der Sorbonne“ an die Grenzen seiner Existenz. Der Dschungel führt die Protagonisten an ihre animalische Seite heran. Aus der Jungfrau Maria wird ein neuer Heilsbringer, Elisabeth gebärt und Alain wird in einer mystischen Existenzkrise neu geboren.

Oberflächlich betrachtet mag „Lust und Glaube“ oder „Verrückt nach dem heiligen Herzen“ wie sich der französische Originaltitel auch schlicht übersetzen ließe, eine Gesellschaftsatire sein, die den Zeitgeist der frühen 1970er Jahre auf die Schippe nimmt. Nach Studentenunruhen und der Flower Power Bewegung, die in allen Richtungen auf Sinnsuche geht, finden abseitige Theorien Eingang in die universitäre Lehre und selbsternannte Glaubensgemeinschaften wachsen aus dem Boden.

„So entspringt das Leben aus dem Tod.“

Dabei mögen durchaus auch autobiografische Elemente und Aspekte Eingang in den ungewöhnlichen Erwachsenencomic gefunden haben. Es finden sich durchaus Ähnlichkeiten zwischen dem charismatischen Jodo und dem verführten Professor Mangelowsky. Auch mögen Girauds Erfahrungen in einer Sekte in diese Geschichte hineingespielt haben. Aber das bleibt Spekulation und es ist letztlich die Sache jede:r Leser:in was sie oder er mit der abstrusen Story anfängt.

Wo die Grenzen des eigenen Humors, Geschmacks oder Glaubens erreicht sind, wird es schnell fäkal und der Professor leidet nicht umsonst bei Stress unter Schließmuskelproblemen. Jodorowsky und Moebius haben als sie sich in den 1990ern auf das Comic-Projekt einlassen, bereits John Difol auf die Reise geschickt und sich gegenseitig künstlerisch beeinflusst, auch wenn Giraud sagt, Jodo wäre ein größerer Lehrmeister gewesen. Beide hatten auch bereit eigene Erfolge und Werke zu verzeichnen.

Aber das führt an dieser Stelle wohl zu weit. Eine Vorstellung der frühen Filme von Jodorowsky folgt demnächst, das Werk von Moebius wurde auf diesen Seiten auch noch nicht zur Genüge gewürdigt. Immerhin wurde der ebenfalls bei Schreiber & Leser erschienenen Manga „Ikarus“ vorgestellt.

„Die fleischliche Hülle hat sich verwandelt und ist zu göttlichem Licht geworden.“

Aber zurück zum Werk „Lust und Glaube“, das über einen Zeitraum von fünf Jahren in drei Alben, also Etappen, erzählt wird. Die Story schlägt ungeahnte Haken und ist an Überraschungselementen kaum zu überbieten. Gleichwohl findet sich hier ein ähnlicher Vibe wieder wie er beispielsweise in Robert Anton Wilsons „Illuminati“-Trilogie zu finden ist. Auch die Sinnsuche eines Hesse’schen Steppenwolf mag durchklingen. Und die trippigen Ausflüge der „Lehren des Don Juan“ klinken sich in dieselbe bewusstseinserweiternde Denkschule des LSD-Gurus Timothy Leary ein.

Für die neunte Kunst zumindest ebenso spannend, wenn nicht faszinierender ist die stilistische Entwicklung, die Moebius von Album zu Album abbildet. Als Giraud hat er mit „Bluberry“ bereits beweisen, dass er klassisch zu illustrieren vermag, als Moebius lotet er bereits die archaischen Momente zukünftiger Szenarien aus. In „Die Irre“ präsentiert Moebius einen anderen Stil. Eher realistisch, aber mit den Verfremdungen der Ligne Claire. Dabei sind die Charaktere schon auch etwas abstrakt beziehungsweise archetypisch oder stereotyp, so wie sie oft in „Die geheimnisvollen Städte“ von Schuiten und Peters wirken.

„Aus der Lanze sprießt die Rose.“

„Gefangen im Irrationalen“ zeigt dann fast eine mediterrane Lockerheit. Helle, pastellige Farben, filigranere Konturen und lebenslustigere Szenarien. Andererseits klare erdiger Farbfilter in der Schlüsselszene. Eingerahmt und unterstützt von einer Strandstimmung wie sie Hugo Pratt hinwerfen würde und einem Stadtnachmittag wie ihn vielleicht Hergé in Szene setzen würde. Das ist schon sehr unterschiedlich zu den beiden anderen Alben.

Schließlich kommt „Der Irre“ etliche Jahre später heraus und präsentiert einen neuen visuellen Stil. deutlich cartoonhafter und auf noch weniger Seiten viel handlungsreicher aufgebaut. Die Seiten sind umtriebig, haben teilweise bis zu 15 Panels. Entsprechend filmischer wird erzählt, mit Close ups und Schnitten. Und während und nach Alains „Wiedergeburt“ erneut eine Wandlung im Zeichenstil. Das ist schon meisterlich. Wenn mensch die Geschichte zu würdigen weiß und einen Zugang zur Erzählung findet.

Keinesfalls ist „Lust & Glaube“ ein essentieller Comic. Auch nicht in der Werkschau der beiden großartigen und visionären Künstler Moebius und Jodorowsky. Vielmehr ist die „Verrücktheit nach dem heiligen Herzen“ eine Übung für Fortgeschrittene. Esoterik und Weltenschau in chaotischer Geworfenheit entlang einer Ereigniskette, die sich zu einem Erneuerungszyklus ausweiten kann, aber nicht muss. Wer mit Transzendenz tanzen mag, wird an der Achterbahn-Fahrt des Alain Mangel seine anspielungsreiche Freude haben. Für eine breite und unvorbereitete Leserschaft ist „Lust & Glaube“ nur bedingt zu empfehlen.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Jodorowsky & Moebius: Lust und Glaube Gesamtausgabe
OT: Folle du sacre-coer 1-3, 2021, Humanoids inc.
Autor: Alejandro Jodorowsky
Illustrator: Jean Giraud aka Moebius
Übersetzung: Resl Rebiersch
Extras: Essay von Andreas c. Knigge, illustriertes Poem von Moebius
ISBN: 9783965820821
Verlag: Schreiber & Leser, gebunden, 208 Seiten,
VO: 02.04.2024 (Erstauflage 2021)

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