Quasi zum 70. Geburtstag stattet die Schweizer Doku „Die Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“ der indischen Stadt einen Besuch ab und schaut auf die Fragen, was von dem zukunftsweisenden Stadtentwurf heute noch zu finden ist und wie es sich heute lebt in der Hauptstadt der Region Panjab? Real Fiction bringt den Film von Karin Bucher und Thomas Karper am 22. Februar 2024 in die Kinos.
Mit beeindruckenden Bauwerken in Indien werden wohl die meisten Leute anderes in Verbindung bringen als die Stadt Chardigarh am Fuße des Himalaja. Dabei entstand hier ab 1950 eine Stadt vom Reißbrett aus, und verantwortlich dafür zeichnet einer der großen Architekten und Designer seiner Zeit, Le Corbusier. Zu weiterführenden und grundsätzlichen Infos bezüglich Le Corbusier oder zur Stadtgeschichte von Chandigarh verweist der Rezensent auf entsprechende Wikipedia-Einträge (Links am Textende).
Grundsätzlich gesprochen brauchte die junge Indische Nation nach der Teilung in Indien und Pakistan für die verbliebene Provinz Panjab eine neue Hauptstadt, da die bisherige ab 1947 auf Pakistanischen Territorium lag. Präsident Jawaharlal Nehru und seine Regierung entschlossen sich einen neuen Verwaltungssitz planen zu lassen. Diese Aufgabe wurde dem Schweizer Architekten Le Corbusier übergeben, der ab 1950 damit begann eine Stadt aufzubauen.
Die schöne Stadt
Dabei wurde nicht nur ein Verwaltungssitz geplant, sondern eine Stadt für alle Menschen entworfen. Noch heute ist die Ende der 1950er fertiggestellte Stadt dem menschlichem Maßstab verpflichtet und eine Stadt der Fußgänger geblieben. Innerhalb von einer dreiviertel Stunde soll mensch sie durchschreiten können.
Doch vom einst „utopischen“ Stadtentwurf rühren auch aktuelle Probleme her. Und weil der Zustand von Chandigarh als unveränderlich festgeschrieben wurde, ist auch Stadtentwicklung kaum möglich. Dabei ist beispielsweise das einst überdimensionierte Verkehrskonzept heute kaum noch genügend. Die Einwohnerzahl hat sich annähernd verdreifacht und Wohnraum ist für einfache Menschen kaum bezahlbar.
Elendswohnviertel haben sich gebildet, und was einst als Entwurf einem sitzenden Menschen nachempfunden wurde, ist seit Anfang der 1990er Jahre ein Stadtkörper ohne Kopf. Denn das Regierungsviertel mit seinen großen Plätzen und volksnahem Konzept ist nach einen Selbstmordattentat streng bewachtes Sperrgebiet.
Corbuiser sitzt allem auf dem Kopf
Das Filmteam um Karin Bucher und Thomas Karper ist in Chandigarh auf Begegnungen aus. Wissensvermittlung im Sinne klassische, historisierender Dokus kommt selten vor, die eingestreuten Archivaufnahmen, sind eher zu Unterstreichung des Gesagten gedacht. Es gibt eingangs eine wenig Kontext über Chandigarh, dann übernehmen die Interviews und Gedanken der befragten und getroffenen Einwohner der Stadt. Dabei handelt es sich vor allem um Menschen mit Bildung und Bewusstsein für den Stadtentwurf, der an sich eine Seltenheit darstellt.
Die Begegnungen und Interviews sind durchaus interessant, ebenso die immer wieder eingestreuten Impressionen, Gebäude und Details der ursprünglichen Stadtarchitektur. Die eingangs aufgeworfenen Fragestellungen gelten dabei lose als Leitfaden der Stadterkundung und so mäandert die Doku durch die Viertel und Straßen Chandigarhs, wirft hier einen Blick zurück, dort einen zur Seite. Gelegentlich wirkt das vermeintlich ziellose Streunen ebensowenig auf den Punkt wie die Ausführungen der Gesprächspartner. So entsteht eher ein Assoziationsraum als ein Realitätscheck von Chandigarh.
„Die Kraft der Utopie“ schwebt weniger durch diese Städte-Doku als vielmehr der Dauerkonflikt zwischen Ernüchterung über Lebensverhältnisse und der musealen Bewahrung eines Entwurfs. Dabei ist die Doku weniger Architekturfilm im klassischen Sinne als vielmehr ein soziologisches Erwandern des Stadtraums wie er sich anno 2023 darstellt. Das hat einige sehr interessante Fragestellungen und Einblicke zu bieten, so sich das Publikum denn für gebaute, gestaltete Umwelt interessiert. Dennoch bleibt „Die Kraft der Utopie“ thematisch und filmisch eher speziell, impressionistisch und nicht immer sehr stringent. Aber das ist wohl auch gar nicht beabsichtigt.
Film-Wertung: (6 / 10)
Die Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh
OT: Die Kraft der Utopie
Genre: Doku, Architektur, Stadtentwicklung
Länge: 84 Minuten, CH, 2023
Regie: Karin Bucher, Thomas Karper
Mitwirkende: Le Corbusier (Archiv), Diwan Manna, Siddartha Wig, Deepika Ghandi,
FSK: nicht geprüft
Vertrieb: Real fiction Films
Kinostart: 22.02.2024