Poor Things: Sie ist ein Experiment

In Yorgos Lanthimos Literaturverfilmung „Poor Things“ macht sich eine seltsame junge Frau auf die Welt zu erkunden. Schauspielerin Emma Stone bewegt sich wagemutig durch diese bizarre, eigenwillig und fantastische Gesellschaftssatire. Das hat durchaus etwas von einem Frankenstein-Mythos, geht aber weit darüber hinaus. Lanthimos findet dafür – wie so oft in seinen gefeierten Werken – drastische Bilder. Das wird nicht jeder Zuschauer:in gefallen. Zu bestaunen ist „Poor Things“ ab dem 18. Januar 2024 in den Kinos.

Im fiktiven London um die Wende zum 20. Jahrhundert lehrt der Mediziner Godwin Baxter (Wilem Dafoe) an der Universität Anatomie. Zuhause hat er ein ganz eigenes Experiment gestartet. Eines Tages zog Baxter den leblosen schwangeren Körper einer jungen Frau aus der Themse. Er haucht ihr neues Leben ein, doch der erwachsene Körper hat nun das Gehirn eines Säuglings und muss alles neu lernen.

Um die Fortschritte von Bella Baxter (Emma Stone) zu dokumentieren, stellt God, wie ihn Bella später nennen wird, den naiven Studenten Max McCandles (Ramy Yussef) ein. Bella macht schnell Fortschritte, lernt Sprache und ihren Körper kennen. Gerade von dem freudvollen Mechanismus im Unterleib ist sie fasziniert. Als Godwin Bella für weit genug entwickelt hält, bittet er McCandles sie zu heiraten. Doch Bella brennt mit dem windigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch, der den Heiratsvertrag aufsetzt. Die Freuden der Sexualität entdeckend, begibt sich das Paar nach Lissabon. Von dort geht es auf Kreuzfahrt. Es schließen sich Stationen in Alexandria und Paris an.

„Eine Frau, die ihren Weg zur Freiheit sucht.“ (Swiney)

Der schottische Autor Alasdair Gray hat sich lange gegen eine Verfilmung gesträubt. Bis Yorgos Lanthimos den Zuschlag bekam. Das Drehbuch stammt von Tony McNamara, der bereits die Bücher für „The Favorite“ von Lanthimos und „Cruella“ ebenfalls mit Emma Stone schrieb. Emma Stone erfüllt ihre Rolle als Bella Baxter mit atemberaubender Hingabe und Offenheit und durchaus irritierendem Infantilität, zumindest im ersten Filmdrittel. In einem sehenswerten und namhaften Ensemble sticht ihre Performance deutlich heraus.

Absurderweise bemerkte ich erst bei der Erwähnung im Abspann, dass es sich um die Verfilmung von Alasdair Romans „Poor Things“ handelt, der 1992 erschien und in Episoden von Max (im Buch Archibald McCandless) erzählt wird. Im Wesentlichen geht es darin um seine Frau Bella und deren „Geheimnis“. Ich gestehe, dass ich vergessen hatte, den Roman Mitte der 1990er Jahre gelesen zu haben. Offensichtlich hat er keinen so intensiven Eindruck bei mir hinterlassen. Anders der Film „Poor Things“.

„Au!“ (Wedderburn)

Auch Marc Ruffallo („Avengers“) tritt erstaunlich und überzeugend körperlich auf. Wenn ich es genau bedenke ist Ruffalo allerdings schon immer ein sehr körperlicher Schauspieler gewesen, unabhängig vom Hulk. So beispielsweise in dem Ringer-Drama „Foxcatcher“ oder in dem komplett unterbewerteten Jane Campion Drama „In the Cut“. Es wird, um es mal bei Namen zu nennen, in „Poor Things“ erstaunlich viel beigeschlafen, gevögelt, herumgehurt und so weiter und auch perverser. Das mag den einen oder die andere Zuschauer:in abstoßen, ist aber im Sinne der Entwicklungsgeschichte der Hauptfigur (und des Subtextes) schon von großer Wichtigkeit.

Neben großartigen Darsteller:innen hat „Poor Things“ aber noch wesentlich mehr zu bieten. Das Setting des Films ist im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch. Bellas „Kindheit“ im Hause Baxter spielt sich komplett in Schwarz-Weiß ab, gefilmt mit einer Weitwinkel-Kameraeinstellung. Bunt, knallig bunt, wird es erst als Bella in die Welt hinaustritt. Lissabon ist ebenso vom Steampunk inspiriert (mit Gondeln und Luftschiffen) wie es an die fantastische Welt von „Alice im Wunderland“ erinnert. Letztlich finden sich in „Poor Things“ aber auch etliche andere literarische Verweise. Möglicherweise nicht unwichtig sind dabei die Irrfahrten der Odyssee.

Die Kulissen für „Poor Things“ ließ Regisseur Lanthimos in Budapest in Studios aufbauen. Auch das hat Filmtradition und es sorgt für einen ganz eigenen Look. Bei dem die Kulisse immer auch als solche zu erkennen ist. Das ist surreal, expressionistisch und metaphorisch. Ebenso wie auch Bellas Geschichte nur eine beispielhafte für die Rolle der Frau in unterschiedlichen Gesellschaften und Zeiten ist. Und letztlich von einer Emanzipation erzählt.

„Wir müssen alles erfahren, Bella. Dadurch werden wie ganz.“ (Swiney)

Inwieweit das Publikum dem Film-Epos diesen Gestus abnimmt, mag auch daran liegen, inwieweit die Gesellschaftssatire als solche aufgefasst wird. Ironie beinhaltet auch immer die Gefahr missverstanden, ernstgenommen zu werden. Mir ist „Poor Things“ bisweilen etwas zu plakativ und zu überspitzt, was aber der literarischen Vorlage, die ja bereits literarische Vorgängerwerke verarbeitet und variiert, durchaus entspricht.

Solcherlei Konsequenz weist auch die Filmmusik auf, die man durchaus für kongenial halten mag. Mir allerdings ging das weitgehend Dissonante in der Beschallung eher auf die Nerven. Möglicherweise hilft es zu erwähnen, dass ich persönlich mich mit Lanthimos’ Filmen immer schwertue und ich den häufig analytischen Blick in der satirischen Überspitzung als zu klinisch und zu garstig empfinde. Gleichwohl erscheint mir die Beschäftigung mit den Filmen, von denen „Poor Things“ der bislang großartigste ist, lohnenswert. Aber Vorsicht, diese annähernd 2 ½ Stunden sind nicht für ein Publikum gedacht, dem es ausschließlich um Unterhaltung zu tun ist. Möglicherweise macht der Film gegen Ende die eine oder andere Wendung zu viel. Aber das mag jede:r selbst sehen.

Ohne Zweifel ist „Poor Things“ ein wagemutiger, visuell und inhaltlich fordernder Film. Vielschichtigkeit ist Trumpf in dieser anspielungsreichen Gesellschaftssatire, in der Frauen, diese „Armen Dinger“, gelenkt, manipuliert, eingesperrt und ihres Gehirns beraubt werden müssen. Das wird der 1992 erschienenen, gleichnamigen und ebenfalls hochgelobten literarischen Vorlage von Alasdair Gray in vielerlei Hinsicht gerecht, erschafft aber eine ganz eigene Filmwelt. Ich habe mit Lanthimos Filmschaffen so meine Zugangsschwierigkeiten. Das wird vielen Leuten so gehen, dennoch ist „Poor Things“ ein herausragender Film, der sicherlich für die eine oder andere Kontroverse sorgen kann.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Poor Things
OT: Poor Things
Genre: Drama, Komödie, Fantasy
Länge: 142 Minuten, GB, 2023
Regie: Yorgos Lanthimos
Darsteller:innen: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo
Vorlage: Gleichnamiger Roman von Alasdair Gray,
FSK: ab 16 Jahren
Verleih: Walt disney Pictures (Searchlight)
Kinostart: 18.01.2023

POOR THINGS. Photo Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.