„Take a step back, take a deep breath.“ Genau das hat die Leipziger Hardcore-Band „Wisent“ gemacht und nach einer ersten EP 2020 nun ein beeindruckendes Debut-Album vorgelegt: „The Acceptance. The Sorrow“ beschreibt zwei Phasen der Trauerbewältigung und bei Wisent die jeweiligen roten Fäden der unterschiedlichen Album-Seiten. Die geneigte Hörerschaft sollte sich nix vormachen lassen, die Wut ist bei aller Akzeptanz und aller Trauer immer zu hören. Seit Anfang Dezember bei Devil Duck Records aus Hamburg veröffentlicht.
Bei den Albumtitel darf sich die Hörerschaft schon mal gespannt fragen, was denn da abgeht? Angesichts der blau und rötlich gefärbten Coverwolken können die Synästhetiker unter uns vielleicht mal zuordnen, wie sich die Farben denn anhören. Spätestens wenn Wisent mit „Lullaby for the Lost“ aufspielen ist ohnehin egal, wohin die Wut und die musikalische Wucht des melodischen Hardcore einen Tragen. Wiegenlieder für Verlorene also. Da bin ich dabei.
Und assoziiere gleich das hochgeschätzte Defeater Album „Empty Days & Sleepless Nights“ ohne dass es passgenau wäre. Mir scheint da allerdings ein ähnliches Konzept zugrunde zu liegen und musikalisch sind die Bands in ähnlichen Gefilden unterwegs. Hardcore oder Post Hardcore mit melodischen, mehrstimmigen Backing Lines, Mut zum klanglichen Experiment und einem Hang zum kontrollierten Wutausbruch.
Was das Quartett „Wisent“ aus Leipzig einzigartig macht, ist auch die DIF, die deutsch Irische Freundschaft. By the Way, auf Bandcamp glitcht auch noch eine Formation „Wisent“ aus Berlin herum, die es aber wohl längst nicht mehr gibt. Also nicht verwechseln. Tatsächlich spielen Gitarrist Mathias und Bassist Morris (irischer Abstammung) schon seit Studienzeiten zusammen. Schlagzeuger Olli kam dann später dazu und das Trio hat nach einem Sänger gesucht.
Hardcore Leipziger Schule
Wie passend, dass Sänger Stephen, aus Irland nach Leipzig gezogen, die späteren Mitmusiker nach einem Kneipenabend überzeugen konnte und das gemeinsame Musizieren auch funkte. Ich höre den Pub, also das irische Element in diesem Hardcore-Gesang auch durchaus heraus. Vor allem auf Seite „Acceptance“. Bisweilen kommt dann musikalisch noch was typisch Turbostaatiges dazu, und das Ergebnis kriegt mich meistens nach wenigen Sekunden.
Früher gab es noch Emo. Was eigentlich kein Genre ist, aber irgendwie melodischeren Hardcore beschreiben sollte. Im Grunde passt das auch für „Wisent“ ganz gut. An dieser Stelle könnte ich nun lang und breit über das bivalente Konzept und die konsequente Umsetzung in unterschiedlichen Sessions und Sounds philosophieren. Oder über die textliche Tiefe der Songs. Aber das mag jeder selbst heraushören. Die Lyrics sind bei den physischen Tonträgern beigefügt. Dass es um Verarbeitung von Verlusten geht ist ohnehin klar, oder?
Also rein ins Album, das mit 10 Songs in 43 Minuten eine volle Breitseite entfacht und die Spielzeit auch zu füllen weiß. „Lullaby for the Lost“ ist ein perfekter Opener. Schlagzeug eröffnet, Gitarrenwand folgt, heiseres Shouten, Blastbeats, melodisches Break und weiter. „And for once i felt connected“. Dito! „Invincible“, jüngst als Video ausgekoppelt, kommt extrem melodisch und mit fast retroartigem Punk-Charme rüber. Der Song hat was Hymnisches, aber auch was sehr Genretypisches.
„Scars that Remain“ ist einer meiner Lieblinge und der heftige Groove und die Riffwand grinden alles nieder, was da im Weg steht. Fast meine ich Leatherfaces Frankie Stubbs mitsingen zu hören. Knallersong, aus dem auch das Intro-Zitat entlehnt ist. Das geht übrigens weiter …keep your head up & don’t look back.“ Vielleicht klingt da auch ein bisschen „Therapy?“ mit.
Gegen die Wellen schreien
„Martyr“ schließt sich midtempo groovend an und hat wieder diesen Hymnen-Charakter, der schnell im Ohr bleibt. „A Sea to Scream at“ beschließt die erste Album-Einheit. Der Song ist schon sehr melodisch und baut sich schön atmosphärisch auf. Vielleicht wäre da gesanglich etwas mehr drin gewesen, aber ich mag die raue, heiser Stimme einfach. Tatsächlich verstehen wohl nur Küstenfans und -bewohner, was es ausmacht die Wellen und den Horizont anzuschreien.
Vielleicht überraschend geht es uptempo und schreiend weiter. „Withered Away“ soll ja die „Sorrow“-Phase einleiten. Aber wer sagt, dass da Wut vergangen sein muss. Sehr straight kommt „Withered Away“ bis zu Minute 2:42. Das ruhige Break mit Streichern (oder Keys) bricht Song und Stimmung auf. Sehr schön.
„Burden“ beginnt mit knarzigem Bass, reitet ein fettes Riff und nimmt dann alles zurück, wenn der Gesang einsetzt. Es bleibt verhalten. Nach drei Minuten wieder Bass und Fuzz-Rotz und wieder abgebremst. „Alone in the Nothingness“ fährt ein episches Opern-Metal-Intro auf um dann Hardcore zu machen. In der Songmitte übernimmt eine Trompete die traurigen Sounds. Auch dieser Song kommt abwechslungsreich und instrumental ausgefeilt rüber.
Gleiches gilt für „The Last Scavenger“, jenen Song, von dem die Band im Ox-Interview sagt, er wäre als erstes nach der EP entstanden und hätte eine neue Richtung eröffnet. Weitgehend getragen instrumentiert erinnert Stephen einen Rickenbacker und eine Stimme aus vergangenen Tagen. Nicht vergessen, wir befinden uns im Hardcore, da kommt die Gitarrenwand noch. „Over The Horizon“ zelebriert einen ähnlichen Aufbau, kann mit Spoken Word Passage Originalität beweisen und der Frage nachgehen, „Was da noch kommen mag?“. Der gelungene Schlusspunkt eines stimmigen, reifen und musikalischen Hardcore Albums.
Diese Hardcore-Perle kommt irgendwie überraschend und irgendwie auch nicht. Überraschend gelingt es Wisent dem Genre noch eigene Identität abzuringen und mehr als individuelle Dynamik aufs Parkett zu zaubern. Nicht überraschend kommt die Band aus Leipzig. In Sachen Underground und harte Gitarrenmukke scheint das gerade „The Place to be“ zu sein. Ein bullenstarkes Album, bei dem sich nur jene um die Post vor dem Hardcore streiten, die zu faul für den Mosh Pit sind.
Album-Wertung: (8 / 10)
Wisent: The Acceptance. The Sorrow
Genre: Hardcore, Posthardcore
Länge: 43 Minuten, 10 Songs, D, 2023
Interpret: Wisent
Label: Devilduck Records
Vertrieb: Indigo
Format: Vinyl, digital, CD
VÖ: 01.12.2023