Zweieinhalb Stunden im Betrieb des klassischen Orchesterzirkus sind keinesfalls der Stoff, aus dem Blockbuster geschnitzt werden. Dafür aber große Filmkunst. Regisseur Todd Field hatte zuvor seit Ewigkeiten keinen Film mehr gedreht und „Tár“ ausschließlich für Hauptdarstellerin Cate Blachett geschrieben. Bei den anstehenden Oscar-Verleihungen sollte sich „Tár“ einige weitere Filmpreise einverleiben. Ein Drama mit Sogwirkung. Im Kino ab dem 2. März 2023.
Dabei beginnt alles so harmlos, bei einem Podiumsinterview wird Lydia Tár (Cate Blanchett) einem interessierten Publikum als Lichtgestalt der klassischen Musik präsentiert. Gerade plant sie mit den Berliner Philharmonikern, die sie seit Jahren dirigiert, Mahlers 5. Sinfonie einzuspielen. Damit wäre sie die erste Dirigentin, die alle großen Mahler-Kompositionen mit einem Orchester aufgeführt hätte. Anschließend hat die erfolgreiche Dirigentin und Komponistin eine Masterklasse am Julliard Konservatorium. Dabei demontiert sie einen Studenten auf recht robuste Weise.
In Berlin lebt Lydia Tár mit der Orchesterleiterin Sharon Goodnow (Nina Hoss) in einer Ehe. Die beiden haben eine Tochter, die in der Schule gerade Probleme hat. Außerdem erwähnt Társ Assistentin Francesca Lentini (Noémi Merlant) immer wieder bedrohliche Emails. Zum Komponieren zieht sich die Dirigentin üblicherweise in ihre alte Berliner Wohnung zurück. Doch langsam aber stetig bekommt die heile Welt Risse. Lydia Tár gerät zunehmend unter Druck und an ihre Grenzen.
„Es geht um Zeit.“
Was für ein Parforceritt, den Cate Blanchett in ihrer Rolle vollführt. Abgesehen von großer Schauspielkunst und nuancierter, facettenreicher Charakterisierung werden auch etliche Phasen der Persönlichkeit in beachtlicher Komprimiertheit sichtbar gemacht. Es ist eine große Ensembleleistung, diese furiose Persönlichkeit durch den gesamten Film zu begleiten, ohne dabei komplett in der Versenkung zu verschwinden. Nina Hoss und Noémi Merlant geben gleichermaßen intensive Frauenrollen und dennoch ist „Tár“ nicht in erster Linie ein „Frauenfilm“.
Die irritierende führende Weiblichkeit im klassischen Musikbetrieb weist nur auf strukturelle Phänomene hin, die üblicherweise kaum thematisiert werden. Auch andere Aspekte des Dirigierens, der Arbeit an einer Philharmonie und des „Genius“-huldigenden Kulturbetriebs werden hier vielschichtig sichtbar gemacht. Allein das Rechercheiren muss irrsinnig aufwändig gewesen sein, so treffsicher viele der Aspekte auf den Punkt kommen. Auch und gerade, weil im englischen Original derart viel Deutsch gesprochen wird wie selten. Eigentlich ist bereits die Verlegung der Handlung nach Berlin, aus den USA heraus, eine Herausforderung an sich.
Und dennoch ist der aktuelle klassische Musikbetrieb nach wie vor dominiert von jenen Komponisten deutsch-österreichischer Herkunft und Schule, dass es sehr oft wirkt, als wäre wenig Raum für Neues, Anderes. Auch dies ein Anrennen gegen Mauern, gegen Traditionen und gegen Machtgefüge. Das ewige Argument, das Publikum wolle eben diese Klassiker, scheint immer noch jede Diskussion zu unterbinden. In einem anderen aktuellen Film fiel jüngst der Satz: „Ich glaube nicht an Publikum.“
„Es geht immer um Zeit.“ (L. Tár)
Diese „Kultur- und Gesellschaftsstudie“ wäre leblos, wäre Todd Field nicht ein herausragender Regisseur, der nicht nur Wert auf Details und Tiefe legt, sondern auch die Geschichte an das Schicksal einer schillernden Figur hängt und so immer die emotionale Bindung zum Filmgeschehen in den Vordergrund stellt. Im Publikum legt sich die nervöse Unruhe der Lydia Tár auf die eigene Beobachtung. Mit zunehmender Intensität bleibt man der Frau auf den Fersen, die sich immer tiefer in ihre eigenen Zwiespälte verstrickt.
Gerade die Persönlichkeit der Dirigentin im Rampenlicht und in der Intimität zeigt derart viele Gefühle, und Leidenschaften und Getriebenheiten, dass das Kreative und Spielerische dabei beinahe in Vergessenheit gerät. Dafür werden Zweifel lauter und dunkler. Das ist sehr nuanciert, bisweilen aber auch mit einem abstrusen Touch von Horrorfilm in Szene gesetzt und dargestellt. Am Ende gelingt „Tár“ dann doch noch eine irrwitzige Pointe.
Glücklicherweise haben weder Cate Blanchett noch die anderen Darstellerinnen ihre Filmrollen abgelehnt. „Tár“ ist das hochspannende Psychogram einer starken Frau, die sich in einer Männerdomäne behauptet. Darüber hinaus ist Todd Fields Epos derart komplex ausgefallen, dass es im Film etliche Ebenen und Phänomene in Gesellschaft und Kulturbetrieb nahezu seziert. Zudem sind die Musikaufnahmen großartig. „Tár“ ist eine Herausforderung, der das Publikum sich stellen sollte, es gibt immer etwas Packendes und Faszinierendes zu sehen.
Film-Wertung: (9 / 10)
Tár
OT: Tár
Genre: Drama,
Länge: 158 Minuten, USA, 2023
Regie: Todd Field
Darsteller:innen: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss,
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Universal Pictures International
Kinostart: 02.03.2023
Foto-Credit: Florian Hoffmeister / Focus Features