Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow ist ein Grenzgänger zwischen Theater, Oper und Film. Immer wieder gerät der Künstler dabei auch in Konflikt mit der russischen Regie. Nun kommt am 26. Januar 2023 mit „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“, der jüngste Film des Regisseurs in die Kinos. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Aleksei Salnikow.

Petrow (Semjon Serjin) hat Grippe und fährt im überfüllten Bus durch Jekaterinburg. Die Fahrt wird immer wieder unterbrochen und an einer Stelle holt Kumpel Igor den fiebrig Kranken aus dem Bus. Dann geht die nächtliche Fahrt mit dem Leichenwagen weiter; Vodka inklusive.

Derweil hält Frau Petrow (Tschulpan Chamatowa) es bei ihrer Arbeit in der Bibliothek kaum noch aus. Da tag der wöchentliche Literaturzirkel und – wie sollte es anders sein – kommt es zu Krawall. Doch auch zu Hause wird die Situation nicht entspannter, denn Petrow Junior hat ebenfalls Grippe und das Fieber will nicht sinken.

Da fragt man sich schon, ob man den Jungen zum Kostümfest an Silvester schicken kann? Immerhin war auch der Papa als Kind schon da und wurde von Fräulein Schneeflocke (Elene Mushkaeva), der Assistentin von Väterchen Frost, gebeten, die Lichter im Baum zu entzünden. Die fiebrige Erkrankung werden die Petrows so schnell aber nicht los. Absurderweise hat Petrow noch Aspirin in der Hosentasche. Das ist fast so alt wie er selbst. Und kann eigentlich nicht schaden, oder?

Bist du real?

Wo anfangen, wenn einem ein Werk so viele Ansatzpunkte bietet? (russische Schreibweisen übrigens nach der üblichen deutschen Umschrift) Der Film muss als Film für sich selbst stehen, also rücken alle Aspekte der Literaturvorlage in den Hintergrund. Auch die schillernde Biografie des Regisseurs, der das Drehbuch selbst adaptierte, muss warten. Ebenso die vermeintliche Metaphorik und Symbolik, die bei so vielen Kollegen allzu schnell zur Hand ist und herhalten muss für die Qualität des Gezeigten.

Was aber wird gezeigt? Fast zweieinhalb Stunden lang schleppt sich die Familie Petrow, betrachtet aus unterschiedlichen Blickwinkeln fiebrig durch den Alltag. Dabei wird schnell klar, dass nicht alles für reale Münze zu nehmen wird. Dann nämlich, wenn Petrow selbst aus dem Bus geholt wird, um an einem Lynchmob teilzunehmen, während die Buspassagiere durch triefend nass beschlagene Fenster zusehen.

Anschließend geht es für Petrow und Igor mit dem Leichenwagen eines Kumpels weiter. Da wird unterwegs gesoffen und gecheckt, wie der tote Kollege denn gekleidet ist. Auch Petrowas (also die geschiedene (?) Frau Petrow) fieberträumt sich in eine Gewaltphantasie, die eines Horrorfilms würdig wäre.

Doch Regisseur Serebrennikow und sein Kameramann Wladislaw Opeljansk finden fiebrige und kunstvolle Bilder und Sequenzen, für das surreal anmutende Leinwandgeschehen. Bisweilen fühlt man sich an die „Wächter der Nacht /des Tages“-Filme erinnert, bisweilen in eine irrwitzige Varieté-Show versetzt. Dabei kommen immer wieder neue Stilmittel und Erinnerungsebenen hinzu.

„Ja, ich bin real.“

Etwa die in nostalgisch gerahmten 16mm-Optik gehaltene Kindheitserinnerung von Petrow selbst. Oder die in Schwarz-Weiß gefilmte Innenansicht einer Theatergruppe. Nichts von dem Leinwandgeschehen, wird von Zwischentiteln oder Hinweisen eingeleitet. Das Publikum muss selbst entscheiden: was ist Wirklichkeit, was ist Fantasie?

Und wann ist das Gezeigte überhaupt? Im Grunde handelt der Film auf zwei Zeitebenen: der aktuellen des Grippekranken Patrows, der im postsowjetischen Jekatarinburg im Bus steht. Jekatarinburg war schon immer eine Industriestadt, die mehr oder minder politisch entwickelt wurde und wenig „urbane Qualität“ aufzuweisen hat.

Das Postsowjetische im Film grenzt sich zeitlich ein, wenn der alte Buspassagier über die die da oben pöbelt und klarmacht, dass Jelzin längst abgedankt hat und seither die immergleichen Typen regieren. Die Verortung in den frühen 2000er Jahren stimmt auch mit der älteren Kindheitserinnerung überein, die durchaus in der Ära Breschnew stattgefunden haben könnte.

Kunstvoll bringt „Petrov’s Flu“ auch die verschiedenen Motive unter einen Hut, das schließen sich am Ende Verknüpfungen, die alle gemein haben, dass sie mit dem Kostümfest an Silvester zu tun haben. Ein Fiebertraum, ein Kindheitserlebnis, eine Tradition. Und auch das Mittel gegen das Fieber hängt an dieser Szene. Hier findet sich dann der zentrale Dialog, der eigentlich ein Aneinander-Vorbeireden ist. Der junge (und auch der fiebrige) Petrow fragen die Snegurotschka (Schneeflocke), ob sie real ist. Woraufhin sie antwortet: „Ja, ich bin real. Du hast Fieber.“

„Du hast Fieber.“

In wie weit das nun Anlass und Abbild zur Gesellschaftskritik in Russland ist, muss jede:r Zuschauer:in selbst abchecken. Es lässt sich allerhand hineininterpretieren. Sicherlich auch in den Roman von 2016, der 2022 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erscheinen ist, nachdem der Film in Cannes gefeiert und bei der Deutschland-Premiere in München bejubelt wurde. Serebrennikow hatte zuvor bereits aus der Haft heraus Opern inszeniert, unter anderem für „Nabucco“ in Hamburg. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat der Künstler Russland verlassen und lebt in Berlin.

Zum Film bliebe noch zu sagen, das die 145 Minuten durchaus ihre Längen haben und bisweilen ermüdend wirken, da es auch zu redundanten Quasi-Wiederholungen kommt. Immer wieder finden sich in dem einschläfernden Momentum aber Variationen und Überraschungen. Das ist beinahe wie musikalischer Minimalismus. Als Film ist „Petrov’s Flu“ allerdings nicht so herausragend wie „Leto“, Serebrennikows kongeniale und hinreißende Musiker-Biografie.

„Petrov’s Fu –Petrov hat Fieber“ verlangt dem Publikum Einiges ab, kann aber auch mit vielen hinreißenden Szenen und Überraschungen bereichern. Viele formale Aspekte sind sehr kunstvoll und bieten eine Seilschaft durch die Orientierungslosigkeit des winterlichen Jekatarienburg. Am Ende wird es dann doch noch sarkastisch hoffnungsirre und hymnisch: Auferstanden, wenn auch nicht aus Ruinen.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Petrov’s Flu – Petrov hat Fieber
OT: Petrovy v grippe
Genre: Drama, Komödie
Länge: 145 Minuten, RUS, 2021
Regie: Kirill Serebrennikow
Vorlage: Gleichnamiger Roman von Alexei Salnikow
Darsteller:innen: Semjon Sersin, Tschulpan Chamatowa, Ivan Ivashkin, Elene Mushkaeva
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Farbfilm/ Salzgeber
Kinostart: 26.01.2023

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