Es gibt das Klischee des rabaukenhaften Fotoreporters, des penetranten Paparazzi. Doch die Arbeit und auch das filmische Porträt der Pressefotografin Absiag Tüllmann, die 1996 verstorben ist, zeigen, dass es möglich ist auf leise und introvertierte Art zu herausragenden Fotos zu kommen. Die Filmmacherin Claudia von Alemann hat 2016 eine essayistische Doku über die Freundin und die Fotografin veröffentlicht. „Die Frau hinter der Kamera“ ist nicht nur eine Biografie, sondern auch ein Film über das Selbstverständnis einer Generation von Frauen.
Minutenlange unkommentierte Aufnahmen der Wohnung Abisag Tüllmanns drei Tage nach deren Tod im Jahr 1996. Der Rundgang mit der Kamera bleibt wortlos, behutsam und gibt den Blick frei auf die Leerstelle, die der Tod hinterlassen hat. Erst nach dieser außergewöhnlichen Eröffnungssequenz öffnet sich der Film den Zuschauer:innen und gibt seine Ambition und sein Sujet zu erkennen.
In gewisser Weise ist „Die Frau hinter der Kamera“ auch ein Abschied von einer Weggefährtin und Freundin. Der Film ist im Grunde auf zwei Pfeilern errichtet, die parallel zueinander montiert sind: einerseits die Fotos, andererseits das gemeinsame Erinnern mit Weggefährten und Freunden. Beide Filmspuren sind von dokumentarischem Purismus und formaler Strenge geprägt. Es stellt sich die Frage, ob diese persönliche Spurensuche tatsächlich eine solche ist, oder ob dieser Essay nicht vielmehr ein eher konventionelles Erinnern und Verabschieden an die Person über das fotografische Werk ist?
Nicht nur in den 60ern hautnah dabei
Denn das umfangreiche Fotoarchiv der Absiag Tüllmann befindet sich heute in Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Über mehrere Jahrzehnte hat die Fotografin das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Bundesrepublik Deutschland festgehalten. Die mehr als 500 Fotografien Tüllmanns kommen ohne jeden technischen Schnickschnack aus, ohne Zoom, Kameraschwenk oder Animation. Und auch dieser Essay inszeniert das Erinnern ohne unruhige Kamerabewegungen geradezu spartanisch.
Das gemeinsame Erinnern mit Freunden und Weggefährten Tüllmanns wiederum läuft über die Werkschau, die Betrachtung ihrer außergewöhnlichen Fotos. Die Neuer Musik“ des Komponisten José Luis de Delás untermalt die Präsentation der Fotos klanglich. Darin findet sich die musikalische und künstlerische Begeisterung der Verstorbenen wieder. Tüllmann hatte bereits früh in ihrer Karriere begonnen, bei den Donaueschinger Musiktagen für zeitgenössische Musik bis dato unbekannte Komponisten zu porträtieren.
Ein untrügliches Gespür für Menschen und Situationen
Im Nachhinein bleibt es erstaunlich, wie treffsicher Absiag Tüllmanns Fotografien soziale Bewegungen und Phänomene schon in deren früher Entstehung begleitet und eingefangen haben. Viele der maßgeblichen Situationen und Charaktere werden klar dokumentiert, noch bevor sich deren Relevanz überhaupt herausgestellte.
Auffällig häufig war scheinbar nicht nur die Fotografin Abisag Tüllmann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sondern (vor allem in den 1960n) regelmäßig auch Filmmacherin Claudia von Alemann („Es kommt darauf an, sich zu verändern“, „Die Reise nach Lyon“). Beide Frauen haben ihre Karrieren in ähnlicher Zeit begonnen, parallel weiterführten und mit dem gemeinsamen Interesse an gesellschaftlichen Prozessen immer wieder auch Berührungspunkte gehabt. Daraus ist auch eine Freundschaft entstanden.
Die Rolle der Frau in der Gesellschaft
Über diese gemeinsame Lebensstrecke und durch viele der anderen sich erinnernden Mitwirkenden im Film, entsteht auch der wichtige Eindruck einer kreativen, selbstbewussten Frauengeneration. Frauen, die mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der Sechziger Jahre sozialisiert wurden und sich intensiv und sehr persönlich mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft beschäftigt haben. Dabei wird eindrücklich deutlich, wie sehr die Frauen den Ausbruch aus der bürgerlichen Enge der 1950er Jahre gesucht und auch geschafft haben. Das ist keineswegs nur ein interessanter Subtext in der Doku, sondern auch und gerade heutzutage noch oder wieder gesellschaftlich relevant.
Pressefotografie ist in ein schwierig zu bewertendes Medium was den künstlerischen Wert über das Bezeugende hinaus anbetrifft. Zu beiläufig nimmt der „normale“ Zeitungsleser das Foto als reine Illustration des Textes wahr, ohne sich der Macht der Bilder, deren Kunstfertigkeit oder Geistesgegenwart bewusst zu machen. Und Pressefotografie unterscheidet sich im ansatz grundlegend von Fotokunst als Kunstrichtung. Auch für die Qualität herausragender Fotografien schärft die sehenswerte Doku „Die Frau mit der Kamera“ den Blick des Zuschauers.
Claudia von Alemanns Filmessay „Die Frau mit der Kamera“ beginnt äußerst sperrig. Eröffnet dann aber eine Vielfalt an Themen und Zeitgeschichte, die beinahe leichtfüßig montiert sind. Trotz der Fülle an gezeigten Fotos lässt der Film dem Zuschauer immer Raum für eigene Assoziationen und bringt ihm dabei das Werk und Leben einer großartigen Fotografin nahe. Auch wegen seiner formalen Reduktion ist Claudia von Alemanns Filmessay „Die Frau mit der Kamera“ ein herausragender und empfehlenswerter Dokumentarfilm.
Film-Wertung: [ust 8]
Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann
OT: Die Frau mit der Kamera
Genre: Doku, Filmessay, Biografie
Länge: 80 Minuten, D, 2016
Regie: Claudia von Alemann
Mitwirkende: Abisag Tüllmann,
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Film Kino Text, Indigo
Kinostart: 23.06.2016
DVD-VÖ: 23.12.2016
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