„Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher Film. Der amerikanische Dokumentarfilmer Jerry Rothwell nähert sich dem Thema Autismus anhand eines autobiografischen Berichts, der es zum Weltbestseller geschafft hat. Dabei geht es ebenso sehr um die Weltsicht der Betroffenen wie darum die einhergehende Sprachlosigkeit zu überwinden. DCM hat den Dokumentarfilm nun digital und für das klassische Home-Entertainment veröffentlicht.
Autismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Ich bin weder Arzt noch Wissenschaftler, weshalb die folgenden Ausführungen sehr vereinfacht erscheinen mögen. Grundsätzlich handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, bei der die Wahrnehmung des oder der Betroffenen beeinträchtigt wird. Mit der Folge, dass die Umwelt von den Sinnen und dem Gehirn anders wahrgenommen wird. Oftmals äußert sich Autismus in einer frühkindlichen Phase.
Gelegentlich in „milder“ Ausprägung führt sie zum Asperger-Syndrom, bei dem die Betroffenen eine Inselbegabung ausbilden, die oftmals genial wirkt, zugleich aber eine erhebliche Einschränkung in anderen Lebensbereichen mit sich bringt.
Einige Autist:innen können nicht sprechen. Dann spricht man von non-verbalem Autismus. Zusätzlich zur sehr eigenen Weltwahrnehmung kommt also eine Unmöglichkeit zu kommunizieren. Zumindest war das Jahrhunderte lang die landläufige und auch medizinische Meinung.
Ein ungewöhnlicher Autor
Der japanische Junge Naoki Higashida schreib mit dreizehn Jahren einen Bericht, in dem er seine autistische Weltsicht und die Wahrnehmung der Umwelt darlegte und es so den „normal“ entwickelten möglich machte, die Welt der Autisten besser zu verstehen. Dabei lässt sich scher verallgemeinern, aber einige Tendenzen scheinen recht verbreitet zu sein.
Der bestseller-Autor David Mitchell („Cloud Atlas“) hat einen autistischen Sohn. Da er japanisch kann, fiel ihm die Naokis Bericht in die Hände und Mitchell übersetzte das Buch, damit die Betreuer:innen seines Sohnes diesen besser verstehen lernen. Das Buch wurde weltweit ein Bestseller unter dem internationalen Titel „The Reason i Jump“ die deutsche Übersetzung ist beim Rowohlt Verlag unter dem Titel „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ erschienen.
Eine andere Welt
Der renommierte us-amerikanische Dokumentarfilmer Jerry Rothwell („Deep Water“, Wie man die Welt verändert“, „Sour Grapes“) war von dem Buch beeindruckt und wollte es filmisch umsetzen. Es stellte sich allerdings heraus, dass der inzwischen 25-jährige Naoki nicht in dem Film mitmachen wollte. Insofern ist der vorliegende Dokumentarfilm, keine direkte Visualisierung des Buches und greift auf einige assoziative Methoden zurück, um das Thema im Film darzustellen.
Nahe am Buch sind die Textpassagen, die von einem Sprecher aus dem Off eingelesen werden, dazu hat Rothwell einen japanischen ebenfalls autistischen Jungen in unbekannter Landschaft aufgenommen. Weiterhin kommt David Mitchell als Vater eines Autisten, aber auch als Übersetzer zu Wort.
Diese Sequenzen, nahe an der literarischen und biografischen Vorlage werden ergänzt mit den Lebenswirklichkeiten anderer nonverbaler Autisten und ihrer Familien, die weltweit gefilmt wurden und ganz unterschiedliche Erfahrungen zu dem außergewöhnlichen Film beitragen.
Während die Mutter von Amrit in Indien vor allem glücklich ist, ihr Kind besser verstehen zu können, haben es Emma und Stevie in den USA sogar geschafft mit einer Buchstabiertafel zu kommunizieren und miteinander eine Freundschaft und Beziehung zu führen. Joss hingegen kann zwar sprechen, ist aber aufgrund seiner Körperkraft und seiner Frustrationsmomente schwerer zu betreuen. Und in Sierra Leone müssen die Eltern von Justina sogar gegen abergläubische Vorurteile ankämpfen. Hier glaubt man noch, dass Autisten vom Teufel besessen sind.
„Wer nicht sprechen kann, kann seine Gefühle und Gedanken nicht mitteilen.“
Filmmacher Jerry Rothwell gibt sich mit einer schlichten Einführung zufrieden und lässt die Zuschauer dann mehr oder weniger selbständig in den assoziativen Fluss der Bilder und Geräusche, der Zitate und der Momente eintauchen. Das entwickelt durchaus einen filmischen Flow, der ansatzweise etwas erschafft, was dem nahekommt, was Naoki in seinem Buch beschreibt.
Das Publikum hat das Gefühl die nonverbalen Autisten und die Protagonist:innen der Doku etwas besser verstehen zu können. Das mag trügerisch sein und gelegentlich auch kontrovers, weil gerade die Ebene der Geräusche schon auch als Soundtrack und Soundeffekt funktioniert. Aber eben bei Autisten auf Sinne stößt, die reize vollkommen anders verarbeiten. Das lässt sich wohl nicht näher darstellen.
„Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ ist ein sehenswerter Film, der versucht die Wahrnehmung von Autisten zu veranschaulichen. Selbst wenn das bisweilen nur begrenzt gelingt, bleibt die Doku ein herausragender Versuch ein besseres Miteinander zu erschaffen.
Film-Wertung: (8 / 10)
Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann
OT: The Reason I Jump
Genre: Doku, Autismus
Länge: 82 Minuten, USA, 2020
Regie: Jerry Rothwell
Vorlage: gleichnamiges autobiografisches Buch von Naoki Higashida
Mitwirkende: David Mitchell, Emma Budwar, Joss Dear, Amrit Khurana
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: DCM, Leonine
Kinostart: 31.03.2022
Digital-VÖ: 13.05.2022
DVD-VÖ: 20.05.2022