Dem Blitz zu nah: Bienenstöcke der Macht

Im Jahr 2454 sieht die Welt ganz anders aus als wir sie kennen. Die amerikanische Science-Fiction-Autorin Ada Palmer serviert den Leser:innen eine überbordende zukünftige Gesellschaft, in der jeder seine Zugehörigkeit selbst bestimmen kann. Jedoch kommen Machtspiele und Intrigen wohl nie aus der Mode. Der quasi rechtlose Mycroft Canner ist in „Dem Blitz zu nah“, dem Auftakt des vierteiligen Epos „Terra Ignota“, zugleich charismatischer Held und unterhaltsamer Erzähler.

Mycroft Canner ist ein ausgesprochen gebildeter, aber für ein frühes Verbrechen verurteilter Straftäter. Verurteilte werden zu Arbeitsdiensten herangezogen. Die Kaste der so genannten Dienstner darf ohne Erlaubnis eigentlich überhaupt nichts, wird aber gerne für Arbeiten und Dienstleistungen aller denkbaren Ausrichtung angefragt und im Gegenzug mit Kost und Logis entlohnt.

Mycroft spricht etliche Sprache fließend, was ihn zu einem bei den Mächtigen dieser Welt stark nachgefragten Übersetzer, Dolmetscher und politischen Analysten macht. Die Welt im Jahr 2454 ist befriedet und wohlhabend. Mittels fortgeschrittener Transporttechnik kann der gesamte Globus innerhalb weniger Stunden umrundet werden. Auch das hat dazu beigetragen, das Konzept der Nationalstaaten zu überwinden.

Hives keine Nationen

Jede:r Mensch kann seine Zugehörigkeit frei wählen. Die Sphären oder Machtbereiche der Welt sind in sieben so genannte Hives aufgeteilt, darunter die Humanisten, die Cousins, die Maurer, die Gordischen, die europäische Union, Mitsubishi und die Utopianer. Je nach aktueller Mitgliederanzahl und nach Grundbesitz und Wirtschaftskraft konkurrieren die Hives um die Macht im Rat. Jeder Hive ist vollkommen eigenständig organisiert, hat eine eigene Amtssprache und eigene Gesetze. Darüber hinaus gibt es allgemeine globale Gesetze und eine gendergerechte Sprache, um niemanden zu diskriminieren.

Jedes Jahr wird von diversen Zeitungen und Institutionen ein Hive-Ranking aufgestellt. Praktisch werden Prognosen veröffentlicht, welcher Hive an Einfluss gewinnt. Das Ranking einer großen Zeitung wurde gestohlen und tauch in eben jener Haushalt auf, in dem Mycroft Canner sich gerade hauptsächlich aufhält. Das ist umso seltsamer, weil für bei dem Diebstahl eine Tarn-Technik verwendet wurde, deren angeblicher Besitz Mycroft vor Jahrzehnten eine Verurteilung einbrachte.

Sinnsager statt Glaubensgemeinschaften

Nun soll ausgerechnet Mycroft helfen die Affäre um dieses brisante politische Dokument aufzuklären. Dabei hat er gerade Wichtigeres zu tun: Denn in der Welt nach den Religionskriegen, in denen es keine institutionalisierten Glaubensgemeinschaften mehr gibt, ist ein Kind aufgetaucht, das scheinbar Wunderkräfte hat und das Mycroft zu beschützen versucht, in dem er die Existenz des Kindes geheim hält.

Soviel also zum opulenten Weltentwurf, den Autorin Ada Palmer in ihrem Debütroman vorlegt. „Dem Blitz zu nah“ erschien 2012 in den USA und wurde gleich mit einem wichtigen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Inzwischen ist 2021 der abschließende vierte Teil der „Terra Ignota“-Reihe erschienen und die Leser:innen hierzulande müssen sich nicht so lange gedulden bis die Saga fortgesetzt und abgeschlossen wird. Panini Book, die im Herbst 2021 aufgepeppte Sparte des Comic-Verlags, veröffentlicht „Terra Ignota“ 2 – „Sieben Kapitulationen“ bereits im Juni.

Die Renaissance im 25. Jahrhundert

Ada Palmer ist von Haus aus studierte Historikerin mit Forschungsschwerpunkt auf das 18, Jahrhundert und die Renaissance. Sie lehrt an der Universität von Chicago und bringt vieles von dem historischen Wissen auch in ihre futuristische Welt ein. Immer wieder werden Philosophen und Staaten und geschichtliche Stationen herangeführt, um die zukünftige Welt zu erklären und auszudeuten. Das ist ausgesprochen detailfreudig und hochspannend konstruiert und dieser Weltentwurf ist durchaus faszinierend.

Ein wenig mag die freiwillige Wahl des eigenen Hives an die „Divergent“-Filme nach dem Roman „Die Bestimmung“ erinnern, die von Autorin Veronica Roth als Dystopie für jugendliche Leser:innen geschrieben wurde. Dort handelt es sich allerdings eher um Kasten in einem abgeschlossenen Gemeinwesen. Bei Ada Palmer ist die Gesellschaft global und geht sogar darüber hinaus. Die Utopisten zieht es in den Weltraum, ihre Hauptstadt liegt auf dem Mond.

Eine eigene Sprache

Bei aller Begeisterung für das Setting und die einzelnen komplexen Handlungselemente soll aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Sprache in „Dem Blitz zu nah“ durchaus eine Herausforderung ist. Die genderneutrale Sprache wird als solche nicht erklärt wie auch die Weltordnung nicht explizit dargelegt wird. Stattdessen kommt im Laufe von Mycrofts Schilderungen immer mehr Details zu Weltordnung und Sprachgebrauch ans Licht.

Der Erzähler unterstützt die Leserschaft, indem einigen Personen halbwegs eindeutige Geschlechtsidentität zugeordnet wird und damit auch der uns vertraute Sprachgebrauch. Das erleichtert das Lesen zwar, aber es bedarf einiger Geduld sich in die futuristische Sprache einzulesen. Wäre die Story nicht so packend, wäre diese Welt nicht so schillernd und opulent, die Beschäftigung mit der Sprache würde nicht funktionieren. Doch das tut sie. Aber das muss wohl jede:r selbst versuchen.

Auch die Übersetzung von Claudia Kern scheint gelungen, sofern sich das sagen lässt. Die Genderneutralität wirkt bisweilen etwas sperrig und hat sicher ihre eigenen Herausforderungen, aber ich bezweifle, dass dies an der Übertragung aus dem Englischen liegt. Für diejenigen, die es interessiert, das Gendern erfolgt nach dem Sylvanin System. Nun aber genug zur Sprache. In der Sci-fi ist es durchaus üblich unbekannte Kulturen mit ihren eigenen Begrifflichkeiten zu unterfüttern. George R.R. Martin und J. R. R. Tolkien erfanden ganze Sprachen um ihre Geschichten authentisch zu erzählen.

Ein opulenter Welt-Entwurf

Große originelle und epische Entwürfe sind auch in der Science-Fiction und in der Phantastik selten geworden. Wäre „Game of Thrones“ nicht zum TV-Serien-Hit geworden, George R. R. Martin wäre vielleicht nur halb so gefeiert. Neben Tad Williams „Otherland“-Tetralogie und dem „The Expanse“-Zyklus von James S.A. Corey habe ich aktuell keine so überzeugenden Welten-Entwurf gelesen wie in Ada Palmers „Terra Ignota“.

Ada Palmers hinreißend futuristische Erzählung „Dem Blitz zu nah“ verspricht Einiges, verlangt der Leserschaft aber auch einiges ab. Die genderneutrale futuristische Sprache ist eine Hürde, die den Einstieg erschwert, die vielen Akteure eine weitere, aber der Roman lohnt sich: Es gibt viel zu entdecken und der Thriller-Plot ist packend. Wir bleiben gespannt.

Buch-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Dem Blitz zu nah – Eine Erzählung der Ereignisse aus dem Jahr 2454. Terra Ignota Band 1.
OT: Too Like the Lightening, 2012
Genre: Science Fiction, Phantastik,
Autorin: Ada Palmer
Übersetzung: Claudia Kern
ISBN: 9783833240973
Verlag: Panini Books, Paperback, 665 Seiten,
VÖ: 08.03.2022


Ada Palmer Autorenseite (Englisch)
Dem Blitz zu nah bei Panini mit Leseprobe