Hinterland: Kein Stein mehr auf dem anderen

Der österreichische Thriller „Hinterland“ erzählt von Trauma und Vergeltung und von Heimkehr in eine Welt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Dazu nutzt der historische Krimi von Oscar-Gewinner Stefan Ruzowitzky auch die Mittel der Verfremdung. „Hinterland“ zählt zu den visuell eigenständigsten Filmen der letzten Jahre und erscheint nun auf DVD und Blu-ray für das klassische Home-Entertainment.

Zusammen mit einer kleinen Gruppe Kameraden kehrt der ehemalige Polizist Peter Perg (Murathan Muslu) erst Jahre nach Kriegsende wieder nach Wien zurück. Die Welt hat sich verändert und niemand hat auf die Spätheimkehrer gewartet. Allenfalls die Adresse des Armenhauses gibt es von Militärverwaltung mit auf den Weg.

Perg immerhin kehrt in eine verlassene Wohnung zurück. Seine Frau und seine Tochter haben der Stadt längst den Rücken gekehrt, doch der traumatisierte Kriegsheimkehrer scheut sich seine Familie aufzusuchen. Stattdessen wird der ehemalige Inspektor zum Verdächtigen in einem Mordfall. Die bizarr ausgestellte Leiche eines mit ihm heimgekommenen Soldaten hat eine Notiz von Perg dabei.

Pergs alter Freund und Kollege Victor Renner (Marc Limpach) hat es inzwischen zum Polizeirat gebracht. Auch, weil gerade eine weitere entstellte Leiche gefunden wurde, stellt der Freund den ehemaligen Inspektor vorübergehend wieder in den Polizeidienst. Sehr zum Ärger des jungen Kommissars Severin (Max von der Groeben), dessen älterer Bruder immer noch als im Krieg vermisst gilt. Da hilft auch wenig, dass die ambitionierte Gerichtsmedizinerin Theresa Körner (Liv Lisa Fries) in höchsten Tönen von dem Kriminalisten Perg spricht. Doch es gilt einen Mörder zu fangen, dessen Tatmotiv Rätsel aufgibt.

Es ist vor allem die expressionistische Bildsprache, die „Hinterland“ so außergewöhnlich macht. In Anlehnung an die bizarre, verzerrte Kulisse in dem deutschen Stummfilmklassiker „Das Kabinett des Dr. Caligari“ und die düstere, farbgesättigte Stimmung in der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ spielt „Hinterland“ ebenso kunstvoll wie poppig modern mit der Perspektive des Settings. Es dauert ein bisschen sich in die ungewohnte Optik einzusehen und sich stimmungsmäßig in den morbiden Thriller hineinzubegeben.

Dabei nimmt der Film die Perspektive der Hauptfigur ein, dessen Leben in Trümmern liegt und der zurückkehrt in eine Heimat, die ihm fremd geworden ist. Das ist freilich nichts, was noch nicht erzählt wurde, aber die entrückte Optik ist kein poppiger Selbstzweck sondern Ausdruck jener Entfremdung und Erschütterung des Rückkehrers.

„Das ist nur postmortale Flatulenz.“ (Dr. Körner)

Auf dieser historischen Grundlage einen finsteren und durchaus brutalen Kriminal-Thriller anzusiedeln, entspricht zwar auch dem populären Zeitgeist, transportiert jedoch vor allem eindrücklich die Verwundungen und Zerrüttungen der Zeit. Dieses Wien, in dem erste Anzeichen der „Hakenkreuzler“ auftauchen, weil sie die einzigen sind, die den Kriegsgefangenen etwas anbieten, ist keineswegs präfaschistisch wie etwa Michael Hanekes „Das weiße Band“, sondern postapokalyptisch. Der Erste Weltkrieg hat eine ganze Weltordnung in Trümmer gelegt.

„Hinterland“ zeigt ein scheinbar unversehrtes, nicht zerstörtes Wien. Doch hinter intakten Fassaden sind die Grundpfeiler der Gesellschaft weggebrochen. Die Monarchie ist zwangsweise einer Republik gewichen, die Reparationen führen zu Armut und Elend in breiten Schichten und jene, die sich die Hände nicht schmutzig machten, misstrauen den spät Heimgekehrten als bolschewistischen Provokateuren.

Welch eine Farce für den Pflichtmenschen und aufrichtig dienenden Soldaten Perg, der versteht, dass er eine persönlich fatal falsche Entscheidung traf als er in den Krieg zog. Nun steht er vor den Ruinen seines Lebens, muss hinnehmen, für seinen Einsatz verachtet zu werden und nur durch vermeintliche Gefälligkeiten überhaupt noch teilhaben zu dürfen. Doch die Vergangenheit fordert Sühne und immer deutlicher wird, dass die Verbrechen mit Geschehnissen in der Kriegszeit zusammenhängen.

„Wer nicht verwundet oder verkrüppelt wurde, ist aus diesem Krieg mit einem schweren Dachschaden zurückgekehrt.“ (Dr. Körner)

Das Thriller-Publikum kennt seine Pappenheimer und weiß um die Erscheinung des Serientäters spätestens seit Jack the Ripper. Immer wieder greifen auch historische Krimis und Mystery-Thriller auf das Motiv des Wiederholungstäters zurück. In „Hinterland“ freilich fehlt ein moderner Profiler. Da muss die Verbrecherjagd es auch mit dem anwesenden Personal gehen. Und das Figurengefüge ist – zumindest in den Hauptcharakteren – durchaus konflikträchtig und zwiespältig aufgestellt.

Gerade der Ex-Cop Perg bliebt ominös. Seine Verstrickung in den Fall bleibt unbenommen, seine tatsächliche Rolle wird immer wieder nur angedeutet und gelegentlich umgedeutet und finster ist’s um den Inspektor. Da kommt es nicht von ungefähr, dass ausgerechnet die Gerichtsmedizinerin in nicht ganz reinem Weiß als Lichtgestalt und personifizierte Hoffnung überlebensgroß durch die zermürbte Kulisse schwebt.

Das selbsternannte „Flintenweib“, dass sich durchaus als Kriegsgewinnlerin begreift, scheint ohne psychologische Altlasten die neue Zeit, den Aufbruch und die Veränderung begrüßen zu können. Liv Lisa Fries („Berlin Babylon“) ist da eine ebenso naheliegende wie herausragend klare Besetzungswahl. An dieser Stelle treibt der Wille zur Bildinterpretation die Filmbetrachtung fort wie die Donau die namenlosen Leichen. Müßig, noch über „Talking Names“, sprechende, weil bedeutende Namen, zu philosophieren. Der Perg ist schon wieder hintersinnig schön.

Allein, der Thriller „Hinterland“ funktioniert ohne all das Überkonstruierte und Aufgebaute ebenso packend wie morbide. Schließlich ist alles nur der Zahn der Zeit, oder Gentrifizierung so wie der Riesenradbetrieb des neubestückten Vergnügungsparks Prater dem „Wurstelprater“ und dem Armenviertel den Garaus macht. Das ist mehr als nur Zeitkolorit das ist ein großes Thema, ein sehenswertes Abbild einer Gesellschaft.

Der österreichische Thriller kommt extravagant und düster daher, aber es gelingt dem beeindruckenden und packenden Film mehr zu sein als nur ein Schaulaufen für computergenerierte Effekte. „Hinterland“ ist auch ein stimmig eingefangenes, erschütterndes Sittenbild wie es das bei den besten Beispielen des Thriller-Genres immer ist. „Hinterland“ hat die unmittelbare Dringlichkeit, die es braucht um lebendig und fordernd aus dieser extrovertierten Kulisse zu treten.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Hinterland
OT: Hinterland
Genre: Thriller,
Länge: 99 Minuten, A/LUX, 2021
Regie: Stephan Ruzowitzky
Darsteller:innen: Murathan Muslu, Max von der Groeben, Stipe Erceg, Liv Lisa Fries,
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Square One Entertainment, Leonine
Kinostart: 07.10.2021
EST: 10.02.2022
DVD- & BD-VÖ: 18.02.2022