Moleküle der Erinnerung: Venedig wie es keiner kennt

Im Grunde ist der italienische Autorenfilmer Andrea Sagre in dem filmischen Essay „Moleküle der Erinnerung“ auf der Suche nach seinem Vater in dessen Heimatstadt Venedig. Doch die außergewöhnlichen Zeiten der aktuellen Pandemie machen dieses Bild von „Venedig wie es keiner kennt“ zu einem intimen und persönlichen, zugleich aber auch gespenstisch schönen Stadtrundgang.

Venedig, die auf Pfählen gebaute Stadt an der italienischen Adria, ist einer der großen Sehnsuchtsorte der Welt. Doch im Paradies gibt es schon lange Ärger: Zu viele Touristen, zu viele Umweltprobleme bedrohen die Existenz der Stadt in der Lagune. Der italienische Filmmacher Andrea Sagre ist in „Moleküle der Erinnerung“ auf der Suche nach seinem Vater. Der ist verstorben und war Venezianer, ging allerdings zum Studium und zur Familiengründung nach Padua.

Vielleicht mag einer der Gründe sein, warum der Regisseur nicht mit der Lagunenstadt warm wird, dass er hier nicht geboren ist. Und doch kehrt der Filmmacher Sagre („Venezianische Freundschaft“) immer wieder zurück in seine Vaterstadt. Direkt nach „Moleküle der Erinnerung“ entstand der Film „Welcome Venice“ der 2021 beim Festival in Venedig Premiere feierte; wie schon „Molecole“, so der Originaltitel dieser Doku, ein Jahr zuvor.

Andrea Sagre selbst sagt, dass „Moleküle der Erinnerung“ weniger ein geplantes, durchdachtes Filmprojekt ist, als vielmehr etwas, das sich ergeben hat, das natürlich zusammengeflossen ist wie Wasser. Und doch folgt der Film einem Ziel, einer Richtung, selbst wenn dabei Umwege und Sackgassen in Kauf genommen werden.

Am Anfang steht eine Fotografie. Auf dieser hat der Vater während der den frühkindlichen Sohn auf dem Arm hält ein Selbstporträt fotografiert, auf dem der Spiegel selbst gar nicht zu erkennen ist. Auf der Suche nach der Familiengeschichte, nach dem Unausgesprochenen in der schweigsamen Vaterfigur wendet sich der Regisseur der Heimatstadt zu, zu der er nie eine Zugehörigkeit verspürte.

Dabei entdeckt Andrea Sagre ein anderes Venedig, eines, das nicht von Touristen überlaufen ist. Zunächst sucht er die Nähe von Einheimischen, die ihm ihre Stadt erklären. Dann erscheint kurz vor dem Venezianischen Karneval 2020 ein Virus auf der Bildfläche, dass alles Geschehen lahmlegt. Der Karneval, der jedes Jahr aufs Neue auch an die große Pest erinnert, wird abgesagt. Die Touris bleiben aus, Kreuzfahrtschiffe und Bustouren bleiben fern und die Serenissima, ein alter Beiname der Republik Venedig, liegt geisterhaft ruhig im winterlichen Nebel. Nicht wenige fühlten sich seinerzeit – gerade hier – an die Pest im 16 Jahrhundert erinnert.

Die Begegnung mit einem einheimischen Fischer und Angler zeigt ein anderes Stadtbild als das Treffen mit dem Beauftragten für die Hochwasser-Pegel. Ausfahrten mit einer Gondolierin bieten menschenleere Einsichten, wo sich sonst Schaulustige tummeln. Selbst die Überfahrt zum Lido und zu den großen Fährterminals, die bei normalem Tourismusaufkommen mit einer kleinen Gondel wegen der Wellen nicht zu bewerkstelligen ist, gelingt und bietet einen gespenstischen Moment der Stille im Becken des Terminals.

Immer wieder schweift die Kamera auch über den Markusplatz. Mehr oder minder menschenleer zu dieser Zeit der Pandemie. Anfangs singt eine Straßenmusikantin noch in der Hoffnung auf Passanten. Doch bald kann das Publikum den Dialog zweier Möwen auf dem Platz laut und deutlich hören. Und der Filmmacher, der immer wieder in seiner Abreise zögert, sitzt schließlich im Lockdown fest.

Wer sich jemals mit der Aufarbeitung der eigenen Elternbeziehung beschäftigt hat, weiß, dass die Erkenntnisse begrenzt sind, sobald die Gegenüber verschwunden sind. Vieles bleibt Spekulation, einiges wird selbstreflektiv und was als Leitmotiv durch die „Moleküle der Erinnerung“ beginnt, verselbstständigt sich in Gedanken, die aus dem Leinwand-Off vorgetragen werden. So wie das Bild der verlassenen Stadt an den Rändern zerfasert, weniger fassbar wird, löst sich auch das Leitmotiv im Filmverlauf vom Konkreten.

Dabei sind die Amateurfilmaufnahmen, die der Vater als 16jähriger machte, nicht nur von persönlichem Wert, sondern verhelfen dem Film zu einer weiteren Ebene in Zeit und Raum. Und so zeigt „Moleküle der Erinnerung“, auch wenn sich der Film bei der Stadterkundung ein wenig in sich selbst verliert, doch zwei unterschiedliche Zeiten und drei unterschiedliche Aggregatzustände Venedigs: Das, was untergeht, jenes, was übervölkert wird, und den Ausnahmezustand.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Moleküle der Erinnerung: Venedig wie es keiner kennt
OT: Molecole
Länge: 71 Minuten, I, 2020
Regie: Andrea Segre
Mitwirkende: Elena Amansi, Maurizio Calligaro, Gigi Givari
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Filmkinotext
Kinostart: 30.12.2021

Ein Kommentar

Paul Hackett 2022/01/04

Wer einmal das normale Venedig erlebt hat, der schätzt die Magie des leeren Venedigs in diesem gutgemachten Filmessay.