Krieg und Frieden: Kollossales Gesellschaftsbild

Der epische Roman „Krieg und Frieden“ gehört zu den großen Klassikern der Weltliteratur. Immer wieder wurde das Werk von Leo Tolstoi auch verfilmt. Zu den aufwändigsten Adaptionen gehört die 1965 veröffentlichte siebenstündige russische Produktion von Regisseur Sergej Bondartschuk. Bildstörung hat dieses epochale Leinwanderlebnis nur in restaurierter Form und in vorbildlicher Ausstattung nicht nur erneut ins Kino gebracht, sondern auch für das klassische Home-Entertainment als DVD und erstmals aus Blu-ray.

Wo anfangen mit der Vorstellung einer Verfilmung von „Krieg und Frieden“? Am besten mit dem Geschehen auf der Leinwand, schließlich geht es ja um den Film als in diesem Falls (un-)abhängige Kunstform. Das Panorama der russischen Gesellschaft setzt im Jahr 1805 im Zarensitz Petersburg ein. Bei einer Abendgala plaudert die Hofgesellschaft über die Entwicklungen in Europa. In Frankreich hält Napoleon die Zügel und wird von vielen bewundert. Auch von dem jungen Adeligen Pierre Besuchow (Sergej Bondartschuk). Dessen Freund, der kluge Graf Andrej Bolkonski (Wjatscheslaw Tichonow), ist unglücklich in seiner Ehe.

Die Handlung: Tolstois russisches Gesellschaftsbild

Während der Hofstaat über Politik palavert sind die Offiziere der russischen Armee friedensmüde und übermütig. Ausufernde Feste und disziplinlose Streiche werden erst mit der Bedrohung eines bevorstehenden Krieges wieder eingefangen. Auch Graf Andrej wird eingezogen und lässt seine schwangere Frau auf dem Gut des Vaters zurück.

Derweil sich die Armee vorbereitet, kehrt Pierre nach Moskau zurück, auch weil es seinem Vater nicht gut geht. Auf einem Ball der Familie Rostow sieht der scheue Intellektuelle die junge Tochter der Rostows, Natasha (Ljudmilla Saweljewa) langsam zur Frau erblühen. Doch bevor Natasha in die Gesellschaft eingeführt werden kann, gilt es Schlachten zu schlagen. Später verliebt sich Natasha in den Grafen Andrej, der als Kriegsheld aus der Schlacht bei Austerlitz hervorgeht.

Leo Tolstoi schrieb einen seiner berühmtesten Romane in den Jahren von 1860 bis 1867. Teile davon wurden bereits vorab als Zeitungsserie veröffentlicht. In seinen vier Teilen beschreibt der Roman die russische Feudalgesellschaft und ihren Wandel anhand von einigen wenigen Hauptfiguren von 1805 bis nach Napoleons Russlandfeldzug und ins Jahr 1814 hinein.

Aufwändige Verfilmung als Antwort auf Hollywood

Die Verfilmung von Sergej Bondartschuk entstand als „nationale Anstrengung“ zum 100. Jubiläum dieser Romanveröffentlichung und folgt dem vierteiligen Aufbau der Vorlage, wobei der erste Teil nach Andrej Bolkonski, der zweite nach Natasha Rostowa und der vierte nach Pierre Besuchow benannt ist, der dritte Teil ist nach der historischen Schlacht bei Borodino 1812 benannt. Mit den namensgebenden Figuren verschiebt sich auch jeweils der Fokus der Betrachtung.

Sicher ist diese Filmversion auch eine Antwort auf die starbesetzte, aber arg gekürzte Hollywoodverfilmung von 1956 und ein Versuch sich das russische Erbe Tolstois wieder anzueignen. Dabei kommt im Grunde kaum sowjetische Propaganda des Kalten Krieges in der Verfilmung zum Tragen. Vielleicht wird an der einen oder andern Stelle zu sehr an den Patriotismus appelliert, aber das ist durchaus auch in Tolstois Vorlage und Gesellschaftsbild vorhanden.

Überhaupt scheint Bondartschuk auf einen persönlichen Regiestil zu verzichten und stattdessen das anzuwenden, was die Erzählung jeweils fordert. So zumindest analysiert die WDR Doku den Besuch bei den Dreharbeiten. Sei es wie es will, die siebenjährige Produktionszeit hat hunderte von Schauspielern und mehr als 12.000 Komparsen aufgeboten. In einem „Making of“ sind tatsächlich die Kameraleute in historischen Kostümen zu sehen, so dass sie nach ihrer Sequenz ins Tableau springen können.

Schnee, Schwarzpulver und Kameraflüge

Außerordentlich kolossal sind auch die Schlachtszenen, die mit etlichen Tonnen Schwarzpulver die desorientierende Gefechtssituation nachbilden und immer wieder die Greuel des Krieges aufzeigen. In Zeiten vor computeranimierten Effekten war man zwar in der Lage Illusionen zu schaffen und mit Kulissen zu arbeiten, aber die großen Brände wurden von einer eigenen Produktionsfeuerwehr unter Kontrolle gehalten. Dabei mag der Ascheregen übertrieben sein, der Feuersturm, der sich bei extremen Bränden entwickelt, wirkt äußerst real. Auch die Winterszenen sind in tatsächlicher Schneelandschaft entstanden und nicht im Studio.

Immer wieder nutzt der Film Flug- und Luftaufnahmen um die Schauplätze wechseln und mithilfe von Romanzitaten das Leinwandgeschehen zu gliedern. Gelegentlich wirkt das etwas statisch, zumeist aber sind die Kommentare doch willkommen. Die Zuschauer:innen sollten sich auf das Geschehen einlassen und die Analyse erst anschließend anstellen.

Herausragende Home-Entertainment-Edition bei Bildstörung

Editorisch gibt es drei Aspekte, die diese Home-Entertainment-Ausgabe herausragend machen. Erstens wurde der 70millimeter-Film von der Produktionsfirma Mosfilm im Jahr 2017 restauriert und die Bildqualität ist schon beachtlich für derart anfälliges und gealtertes Filmmaterial. Weiter wurde auch die deutsche Synchronfassung, die in der DDR von der DEFA erstellt wurde, soweit es ging restauriert. Gelegentlich gibt es zwar Lautstärke-und Soundschwankungen, aber im Großen und Ganzen hat sich auch dieser Aufwand gelohnt.

Letztlich ist auch die Edition selbst liebevoll und detailliert aufbereitet. Dazu gehören editorische Notizen zu Bild- und Tonmaterial, ein überaus lesenswerter Essay über Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ in einem 24-seitigen Booklet und eine Extra-DVD mit mehr als vier Stunden Bonusmaterial. Darin sind diverse hierzulande unveröffentlichte Filmdokumente enthalten. Neben der Bereits erwähnten WDR-Doku über die Dreharbeiten gibt es noch eine ausführliche Bondartschuk-Doku von 2010, ein halbstündiges russisches Making-Of, Interviews zum Film und kurze Dokus über Tolstoi und Bondartschuk.

Monumentales Epos

Sicherlich ist die sowjetische Annäherung an die „russische Seele“ nicht jedermanns Sache und die Sehgewohnheiten und filmischen Paradigmen haben sich seit den 1960ern geändert. Sergej Bondartschuk ist für die Rolle des Pierre ebenso zu alt wie Henry Fonda ein Jahrzehnt früher. Viele der Charaktere wirken überspannt, was vielleicht schlicht dem damaligen Zeitgeist im 19. Jahrhundert entspricht. Eine neue britische Serienadaption des Romans kommt annähernd an die Länge dieser Verfilmung heran und fällt sicherlich gefälliger und weniger sperrig aus als diesen neu entdeckte Meisterwerk der Filmkunst. Immerhin gab es für das monumentale Epos seinerzeit auch internationale Anerkennung sowie einen Golden Globe und einen Oscar.

Nicht nur die Produktion auch die Sichtung von Bondartschuks „Krieg und Frieden“ ist eine Mammutaufgabe. Selbst sin Zeiten von Serien-Binge-Watching hebt sich die bildgewaltige Kinoproduktion aus dem Gewöhnlichen heraus. Allerdings macht der Film in Bezug auf Werktreue wenig Kompromisse und ist in Sachen Sehgewohnheiten keine Zugeständnisse an eine leicht zu konsumierende, seichte Klassikerverfilmung. Darüber hinaus ist die Aufmachung der DVD und Blu-ray-Box einfach vorbildlich und enthält essentielle Extras.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)
Editions-Wertung: 10 out of 10 stars (10 / 10)

Krieg und Frieden
OT: Woina i Mir
Genre: Drama, Historie, Literatur,
Länge: 422 Minuten, UdSSR, 1966/67
Regie: Sergei Bondartschuk
Roman: Leo Tolstoi: „Krieg und Frieden“
Darsteller:innen: Sergei Bondartschuk, Ljudmilla Saweljewa, Wjatscheslaw Tichonow,
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Bildstörung
Kinostart: 1967
DVD- & BD-VÖ: 26.11.2021

Copyrightlines:
Szenenfotos: © 1965-67 & 2017 Mosfilm
Foto Sergei Bondartschuk: © Mosfilm
Deutsche Synchronfassung: © DEFA-Stiftung
Poster: Bildstörung
Verleih: Bildstörung
Vermietung: Drop Out Cinema

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