„Bericht über einen kuriosen Aberglauben“ nennt sich die Recherche, die der Mitarbeiter Isidor Louis für das Zentralarchiv anfertigen soll. Im Grunde muss geprüft werden, ob „Die geheimnisvollen Städte“ tatsächlich existieren. Für Szenarist Benoît Peeters und Illustrator François Schuiten stellt sich die Frage nicht, ist ihr Comic-Zyklus doch längst weltberühmt und gilt als herausragendes Beispiel des literarischen und architekturgeprägten Comics. „Der Archivar“ hat keine eigentliche Handlung, bietet aber eine fantastische Städtereise in ein faszinierendes Paralleluniversum.
Isidor Louis, seines Zeichens Archivar im Zentralarchiv und alleinig mit der wenig angesehenen „Abteilung für Mythen und Sagen“ betraut, verrichtet, so darf man annehmen, seine Arbeit normalerweise ziemlich unbehelligt. Nun aber hat man ihm eine heikle Sache übergeben. Kartonweise Material, das es zu sichten und zu sortieren gilt, abzuklopfen auf Beweise für die reale Existenz jener „Geheimen Städte“.
Isidor Louis stößt auf Bilder von unbekannten Orten und auf Textquellen, über jene unbekannte Welt. Es gelingt ihm gelegentlich, beides in Zusammenhang zu bringen und so eine in sich schlüssige Welt zu belegen, die unserer (und seiner?) zwar ähnelt, aber sich auch in wesentlichen Aspekten unterscheidet. Hier gibt es Luftschiffe und Dampfloks neben Wolkenkratzern und viktorianischen Glasbauten, es gibt mythische Wesen, die auf Vögeln reiten und eine gitterartige Struktur, die sich um diese Welt legt und zu leben scheint. In seiner Kammer fügt der Archivar Fantastisches zusammen.
Existieren „Die geheimnisvollen Städte“ tatsächlich?
Als „Der Archivar“ im Jahr 1987 erschien, hatten die beiden belgischen Comic-Künstler, Szenarist Benoît Peeters und Illustrator François Schuiten, eigentlich gerade erst mit ihrem Zyklus „Die geheimnisvollen Städte“ begonnen. Erschienen waren bislang zwei abgeschlossene Bände: „Die Mauern von Samaris“ (1983) und „Das Fieber des Stadtplaners“ (1984). „Das Geheimnis von Urbicande“ wird diese Zeit ebenfalls zugerechnet und 1987 war „Der Turm“ bereits weitgehend fertiggestellt, so dass der Band im selben Jahr wie „Der Archivar“ erscheinen konnte.
Faszinierend an „Der Archivar“ ist also, dass es bereits Bilder von „Brüsel“ gibt, das erst 1992 erschien und auch Xhysthos erwähnt wird, das den Bewohnern des Turms zwar eine Gewissheit ist, aber noch lange nicht in der Mythologie dieser Parallelwelt ausgelotet wurde. Auch machen Leser:innen bereits Bekanntschaft mit dem gepeinigten Doktor Abraham, der erst in dem „Geheimnis von „Pary“ eine gewichtige Rolle spielen soll. Aber genug der zukünftigen Attraktionen.
Bei ihrem faszinierenden Parallelwelten-Entwurf setzen Schuiten und Peeters anfangs vor allem Steampunk, jenes „Genre“, in dem die technische Welt quasi im viktorianischen Zeitalter der Dampfmaschine stehengeblieben ist, während sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat. Die Geschichten haben jeweils ein sehr kafkaesques Momentum, in dem Sinne, dass die jeweiligen Protagonisten von unbekannten Autoritäten auf seltsame, beinahe unerfüllbar Missionen geschickt werden, was sich jedoch meist erst unterwegs herausstellt. Insofern ist auch Isidor Louis ein typischer Antiheld der „Geheimnisvollen Städte“.
Rundreise und Ausblick
„Der Archivar“ ist eine Wiederauflage. Seine Berechtigung hat dieser „Ergänzungsband“ jedoch ohne Zweifel. Gerade aus den textlichen Miniaturen und den großen Illustrationen ergeben sich für neugierige Leser:innen spannenden und faszinierende Zusammenhänge. Selbstverständlich muss dieses Wissen geheim bleiben.
„Die geheimnisvollen Städte“ umfassen 18 Bände, die alle in sich abgeschlossene Geschichten und Architekturen beinhalten und ihre jeweils eigenen literarischen Verweise und Inspirationen umsetzen. Das ist gleichsam ambitioniert wie faszinierend und macht deutlich mehr Lesevergnügen sich bei der intellektuellen Herangehensweise vermuten ließe. Was auch daran liegt, dass es immer wieder Rätselaufgaben und Schnitzeljagden zu bestreiten gilt. Seit 2004 erscheinen „Die geheimnisvollen Städte“ in gut editierten, broschierten Alben bei Schreiber & Leser, die mit der Gesamtedition allerdings noch nicht ganz durch sind.
„Der Archivar“ von Schuiten und Peeters ist keine weitere Geschichte der „Geheimnisvollen Städte“ sondern ein erläuterter Bildband, eine Spurensuche, die vor allem Fans entzücken dürfte. Viele der beschriebenen Orte waren bei Erscheinen des „Archivars“ noch Zukunftsmusik. Die seitenfüllenden Illustrationen fremder urbaner Räume sind gerade in ihrer Größe imposant und wunderschön. Als Einstieg in die Welt der geheimnisvollen Städte sind andere Bände sicher geeigneter. Als Kunstmappe, quasi als Ausstellungsband, und als Reiseführer durch diese fantastische Welt weckt der „Archivar“ Fernweh und Sehnsucht. Ein Aufbruch in eine andere zukünftige Welt, deren Vergessen bereits eingesetzt hat.
Comic-Wertung: (8 / 10)
Der Archivar
OT: L’Archiviste, Casterman, 1987, 2009
Aus der Reihe: Die geheimnisvollen Städte
Autor: Benoît Peeters
Zeichnung: François Schuiten
Übersetzung: Resl Rebiersch , Ömür Gül
ISBN: 978-3-96582-046-3
Verlag: Schreiber & Leser, broschiert, 64 Seiten
Die geheimen Städte bei Wikipedia