Ein guter Mensch: Löcher im Gewissen

Die türkische Krimi-Serie „Ein guter Mensch“ lief mit internationalem Erfolg auf Netflix und konnte sogar einen Emmy für den besten Darsteller einheimsen. In der Serie geht es um den Rachefeldzug eines ehemaligen Gerichtsschreibers, der an Alzheimer leidet. „Ein guter Mensch“ ist nicht nur seiner Herkunft wegen zumindest eine willkommene Abwechslung zum Serieneinerlei der Streamingdienste. Nachdem Magenta-TV die Serie seit Oktober ausstrahlt ist sie seit Anfang Dezember plattformunabhängig für das klassische Home-Entertainment als DVD und Blu-ray erschienen.

Eines Morgens wacht der verwitwete und pensionierte Gerichtsschreiber Agâh Beyoglu (Haluk Bilingir) auf und sucht vergebens nach seinem Kater Munir. Später findet er das verendete Tier unter dem Sofa. In der Frühphase einer Alzheimer-Erkrankung hatte Agâh schlicht vergessen das Tier zu füttern. Aber die Diagnose des fortschreitenden Gedächtnisverlustes lässt den alleinlebenden Rentner auch zu einem folgenschweren Entschluss kommen.

Seit Jahrzehnten quält ihn die Erinnerung an ein schändliches Verbrechen in dem Dorf Kambura, das seinerzeit nicht weiter verfolgt wurde. Seither hat Agâh Bey gelegentlich vergeblich versucht Selbstjustiz zu üben. Jetzt macht er ernst.

“Now let me ask you something:…

Als die Leiche eines ehemaligen Richters in dessen Haus gefunden wird, hat sie eine Nachricht für eine junge Polizistin auf der Stirn. Dabei hat es die junge Nevra Elmas (Cansu Dere) ohnehin nicht leicht, sich in dem Macho-Club der Mordkommission zu behaupten. Als einzige Frau, wird sie immer wieder als Vorzeige-Polizistin ausgestellt und muss sich zugleich die sexistischen Kommentare der Kollegen, vor allem von Partner Firuz (Firat Toporur), gefallen lassen. Nun auch noch mehrere Mordopfer, die absurde, mit altem Etikettiergerät geschriebenen Nachrichten für Newra übermitteln.

…Have you ever felt that you weren’t responsible for the things that you do?…

Doch es dauert eine Weile, bis die Mordkommission unter Leiter Tolga (Necip Memili) überhaupt einen Zusammenhang zwischen den Opfern herstellen kann. „In der Türkei werden die Leute nicht zu Serienmördern. Hier laufen die Leute Amok und das wars.“Es scheint, dass die Toten alle für eine Zeit in dem beschaulichen Örtchen Kambura gelebt und gewirkt haben. Newra und Kollegen beginnen dort nachzuforschen. Eine Spur führt zu dem zwielichtigen Journalisten und DJ Atis Arbei (Metin Akdülger).

…When the girl that you are with is just too much…

Derweil ändert sich für Agâh Bey Einiges, als seine Tochter Zuhal (Sebnem Bosoklu) mit ihrem fast erwachsenen Sohn Deva (Recep Usta) aus Australien zurückkehrt, weil sie sich scheiden lassen will. Die Ruhe in der eigenen Wohnung ist für Agâh dahin und er beginnt bei seinen Rachemorden ein Katzenkostüm zu tragen. Außerdem benutzt er eine Tangobekanntschaft als amouröse Ausrede für seine Ausflüge. Enkel Deva ist fasziniert von dem kostümierten Mörder und zieht einen Fanclub auf.

…She is so out of sight, baby, that all you can say is: Well, all right!…

Agâh Bey hat derweil mit immer längeren Phasen des Vergessens zu kämpfen und mit einer nicht eingeplanten Zeugin, die sich allerdings schön längst nicht mehr mit der langweiligen Welt abgibt. Als Zohal einen Job bei dem Geschäftsmann Cemil (Hüseyin Avni Danyal) bekommt, erinnert dieser den Rentner ebenfalls an das verluchte Kambura.

Der Serienauftakt macht es einem Leicht, in das Setting von „ein guter Mensch“ einzutauchen. Regisseur Onur Saylak weiß ebenso wie Drehbuchautor Hakan Gunday wie man Spannung aufbaut und auch hält. Dabei ist die Krimi-Serie nicht im action-lastigen Sinne spannend und auch nicht kniffelig in Hinblick auf den Täter. „Ein guter Mensch“ bezieht seine Spannung aus dem zugrunde liegenden Drama. Das Publikum wird immer tiefer in die vergangene Düsternis hineingezogen und es tut sich schnell einer diffuser, bösartiger Abgrund auf, dem sich die Figuren konzentrisch nähern.

Doch keine Bange: Ein guter Mensch“ ist kein düsterer Nordic-Noir Thriller, sondern schafft es immer wieder auch auflockernde Elemente in die Serie einzubringen. Das ist beizeiten sehr gelungen, etwa, wenn Erinnerungen in animierter Weise dargestellt werden oder wenn der Hundemörder-Fanclub einen Flashmob veranstaltet, aber bisweilen auch derb überzogen, beispielsweise, wenn eine Nachwuchs-Black Metal Band im Wald vor einer verpackten Leiche posiert, bevor die Polizei vor Ort eintrifft.

…I’m not responsible, not responsible…

Nicht alle Wendungen der Geschichte wissen gänzlich zu überzeugen, einige Einfälle führen zu Abseiten, andere Aspekte werden zu stark ausgebreitet und verleihen dem Erzählfluss der zwölf Episoden, die immerhin 800 Minuten dauern, eine unvorteilhafte Verlangsamung. Doch letztlich ist es gerade der Reichtum an Abschweifungen, Nebenfiguren und Gesellschaftsbeobachtungen, der „Ein guter Mensch“ zu einer herausragenden Serie macht.

…For anything I do when I’m with you.” (Tom Jones, „Not Responsible”)

Man sagt Serien-Schreiber und Autor Hakan Gunday nach, er wäre mit Sex- und Gewalt-Themen das „Enfant Terrible“ der türkischen Literatur und prangere immer wieder politische Missstände und gesellschaftliche Fehlentwicklungen an. Das mag sein, mir fehlt die Einsicht in die türkische Gegenwart. Gundays Werke werden übrigens auch hierzulande verlegt. Selbstjustiz an sich kann ja als Kritik am Rechtssystem ausgelegt werden, aber das Feld wird seit „Dirty Harry“ und „Death Wish“ filmisch beackert. Einige Aspekte der Serie und einige Szenen, gerade im Zusammenhang mit Journalismus und Polizeiarbeit lassen sich durchaus als Systemkritik verstehen.

Für den Erfolg beim türkischen Fernsehpublikum mag das ausschlaggebend gewesen sein, für den internationalen sind es vor allem die „exotischen“ Schauwerte der Serie, die kluge und schwungvolle Idee eines dementen Killers und ein grandioser Hauptdarsteller, der einen hirnreißenden Reiseführer durch die unbekannte Metropole Istanbul gibt.

Haluk Bilginer als Agâh Bey ist eine ebenso tragische wie charmante Hauptfigur. Wer seinen Gedächtnisverfall philosophisch betrachten kann, muss zwar kein glücklicher , aber schon ein lebenslustiger Mensch sein. „Ein reines Gewissen ist frei von Furcht. Alles vergessen können und sogar vergessen, dass man vergisst.“ „Ein guter Mensch“ ist eine beachtliche, empfehlenswerte Serie, nicht nur für Krimi-Freunde.

Serien-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Ein guter Mensch
OT: „Sahsiyet“
Genre: TV-Serie, Krimi, Drama
Idee & Drehbuch: Hakan Gunday
Regie: Onur Saylak
Darsteller: Haluk Bilginir, Cansu Dere, Hüseyin Avni Danyal
FSK: ab 16 Jahren
Vertreib: EyeSeeMovies
DVD- & BD-VÖ: 03.12.2020