Nestor Burma: Die Ratten im Mäuseberg

Es beginnt in der Gegend um den Bahnhof von Montparnasse, Paris, im Jahr 1955. Privatdetektiv Nestor Burma lässt sich auf ein heimliches Treffen mit einem Kleinganoven ein. Der hat angeblich einen großen Fisch an der Angel – und dann ist der Gauner tot. Burma beginnt zu ermitteln und kommt einer Gaunerbande auf die Spur. Die Comic-Reihe, oder die Graphic Novels – für alle, die es bildungsbürgerlicher haben -, nach Kriminal-Romanen von Léo Malet haben eine lange Tradition und einen guten Ruf, den auch die jüngste Adaption von Szenarist Emanuel Moynet und Zeichner Francois Ravard eindrucksvoll bestätigen, frisch erschienen bei Schreiber & Leser.

Fast möchte man meinen, der aktuelle Spätsommer wolle einem die Lektüre von „Die Ratten vom Mäuseberg“ ans Herz legen. Selten war es so leicht, Nestor Burma nachzuvollziehen: „Es war ein Sommerabend wie ich ihn liebe. Es warm, dass einem die Hemdknöpfe abplatzen. Freilich hat der Privatschnüffler im Sommer 1955 nichts Besseres zu tun, als sich mit einem abgeschmackten Kleingauner zu treffen, der tönt, einen großen Coup landen zu wollen.

Dabei muss sich Burma eigentlich mit einem weniger sympathischen Klienten herumplagen. Der ehemalige Richter Gaudebert wird erpresst und setzt Burma auf die Sache an. Prinzipiell fühlt sich der Jurist nicht erpressbar, hat er doch für seine Kriegs-kollaboration mit den Nazis unter dem Vichy-Regime gebüßt, davon abgesehen, hält sich „Richter Rübe-ab“ für einen unbescholtenen Bürger. Doch Burma entgeht nicht, dass Gaudeberts attraktive rothaarige Gatten, ihren Mann zu verabscheuen scheint.

Doch dann wird der Kleinganove tot in seine Bruchbude aufgefunden. Burma bemerkt im Treppenhaus eine unbekannte, betrunkene Frau, die eigentlich zuviel Klasse hat, um hier zu hausen. Die Schöne ist allerdings schnell von der Bildfläche verschwunden. Die Spur um den Ganoven führt zu einer Bande Kleinkrimineller, die sich „die Ratten von Mäuseberg“ nennt, nach jenem Park Montsouris in Montrouge, dem 14. Arrondissement von Paris, und für zahlreiche Einbrüche verantwortlich ist.

Die Reihe mit Comic-Adaptionen von Nestor Burma Romanen geht ursprünglich auf die kongeniale Zusammenarbeit von Zeichner Jaques Tardi, einem französischem Altmeister der neunten Kunst, mit Krimi-Autor Léo Malet zurück. Tardi hat mit seinen gezeichneten Roman-Adaptionen viel Renommee eingeheimst, seine Umsetzungen der finsteren Crime Noir Stories von Léo Malet jedoch haben weit mehr als nur Kultstatus. Bis zum Jahr 2000 hat Tardi sechs Burma-Geschichten gezeichnet, einige sogar eigenständig nach Figuren von Malet.

„Jedes Mal, enn ich meinte, diesen schlüpfrigen Fall beim Wickel zu packen, folgte eein gewaltsamer Tod.“ (Nestor Burma)

Seit 2010 hat die französische Verlag Casterman die erfolgreiche Reihe wieder aufgenommen und veröffentlicht weiter Comic-Versionen von Nestor Burmas Fällen nach Romanen von Malet und mit Figuren nach Tardi. Hierzulande erscheinen die lesenswerten Krimi-Comics bei Schreiber & Leser. Bislang wechselten in der Reihe die Künstler Emmanuel Moynot und Nicolas Barral damit ab, die Kult-Krimis zu inszenieren. Nun hat die „Burma“-Familie ein neues Mitglied bekommen und für die Zeichnungen ist Francois Ravard zuständig, während sich Moynot auf das Szenario verlegt hat.

Es scheint vielleicht verwunderlich, dass ich das an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit ausbreite, aber bei „Nestor Burma“, der in Frankreich nicht nur in Comic-Form durchaus eine Institution ist, verhält es sich ähnlich wie mit den „Asterix“-Abenteuern. Zunächst waren Uderzo und Goscinni die Kreativen, dann verstarb Autor Goscinni und Zeichner Uderzo machte allein weiter so lange es altersmäßig und kreativ eben ging. Anschließend übergab Uderzo, der in diesem Jahr verstarb, seine Comic-Schöpfung dann in die Hände von Didier Conrad und Jean-Yves Ferri. Puristen rümpfen die Nase, Fans wissen das zu schätzen, selbst wenn es weniger genial weitergeht.

Bei „Nestor Burma“ verhält es sich ähnlich. Leser:innen dürfen davon ausgehen, dass die Adaptionen zumindest von Tardi abgesegnet sind. Und es ist mehr als eine Hommage, den grafischen Stil der Malet-Adaptionen weiterzuführen, es ist schlicht alternativlos und selbstverständlich, dass der illustrierte Nestor Burma genau und nur dieses kantige, Pfeife kauende Kinn durch die Panels tragen darf. Als weitergehende Empfehlung nicht nur für Tardi-Fans sei an dieser Stelle auch der großartige Animationsfilm „April und die außergewöhnliche Welt“ (OT: „Avril et le monde truqué“, 2015) erwähnt, der auf Jaques Tardis Figuren und Szenen beruht.

Aber zurück aufs Parkett der Handlung: „Die Ratten vom Mäuseberg“ ist nicht der stärkste Fall für Nestor Burma, aber im Grunde genommen gibt es keinen Krimi mit dem Detektiv, der nicht höchst lesenswert wäre. Leo Malet hat seinen Detektiv erstmals 1943 in einen finsteren Kriminalfall geschickt. Es folgten zahlreiche Ermittlungen und Fälle, von denen 15 Romanen (zwischen 1954 und 1959) eine besondere Bewandtnis zukommt, da sie jeweils in einen Stadtteil – Arrondissement – von Paris spielen und dessen Flair, Charakteristika und Orte in die Geschichte einweben. Die Romane, die hierzulande bei Rowohlt erschienen, wurden mit einem Nachwort in Form eines Stadtteil-Rundganges versehen. Die Comics bei Schreiber & Leser behalten diese Tradition bei. Hinzu kommt eine schöne Hardcover-Ausgabe, die nicht in dem üblichen großen Album-Format erscheint, sondern wesentlich kompakter ausfällt, und eher wie ein gebundenes Buch wirkt. Für diese wunderbare Verbindung zweier inzwischen rehabilitierter Schund-Gattungen (Comic und Krimi) ein angemessenes Format.

Nestor Burma ist einer der ganz großen Detektive der Kriminalgeschichte. Seine lakonische, bisweilen anarchische Art, mag dem amerikanischen Vorbild abgeschaut sein, doch hat er die meisten Kollegen an Coolness und charakterlicher Tiefe schnell und deutlich überflügelt. Die aktuelle Comic-Reihe um Nestor Burma ist klassisch stilvoll und absolut empfehlenswert, da reiht sich auch „Die Ratten im Mäuseberg“ demütig, selbstbewusst und kraftvoll ein. Wer nicht mit Nestor Burma durch Paris gestreunt ist, versteht die französische Art zu Leben nicht; oder zumindest deutlich schlechter.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Die Ratten im Mäuseberg
OT: „Nestor Burma – Le rats de Montsouris, Casterman, 2020
Genre: Krimi, Graphic Novel
Autor: Leo Malet,
Szenario: Emmanuel Moynot
Zeichnungen: Francois Ravard (Figuren nach Tardi)
Farben: Philippe de la Fuente
Übersetzung: Resel Rebiersch mit Ömür Gül
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 72 Seiten
VÖ: 08.09.2020

Nestor Burma Reihe bei Schreiber & Leser